Venlo, Duisburg, das sind doch bürgerliche Kategorien!

Wir Ultras wissen, dass Anpassung wichtig ist. Hitzeanpassung beispielsweise, oder auch jede Form von Trainingsreizen, an die sich unser Körper gewöhnen und so seine Leistung erhöhen soll. Aber Ultralaufen ist auch eine menschliche Frage – nicht nur in Bezug auf die Herausforderung, vor die sie den Läufer selbst stellt, sondern auch in Bezug auf die Menschen, die irgendwie mit diesem leicht schwierigen Hobby auskommen müssen. Ein bisschen erinnert mich diese Anpassung immer an die Phasen der Trauer, denn über das Nicht-Warhaben-Wollen über Emotionen kommt irgendwann die Akzeptanz, die bisweilen so weit geht, dass die Beklopptheit des Ultraläufers ganz selbstverständlich in die Tages- Wochen- und Lebensplanung mit einbezogen wird (sog. “paradiesischer Zustand”). Eben in diesem Stadium scheine auch ich angekommen zu sein, denn als Mitte Juli der Plan aufkam, zum Shoppen nach Venlo zu fahren, hieß es direkt “Du könntest doch einfach laufen”. Ja gut, rund 100 Kilometer, das passt. Ein Termin war schnell gefunden und der Plan stand.

Kurz vor dem Termin am heutigen Samstag kristallisierte sich heraus, dass es rund 36-38 Grad heiß werden würde und auch mir kamen Zweifel, ob das so zu machen sei. Etwa an der 60er-Marke hört die Zivilisation offen gesagt einfach auf, so dass außer einem Friedhof bei Kilometer 70 keinerlei Versorgungspunkte mehr zu erwarten wären. Die Shoppingtruppe würde bis maximal 20 Uhr warten und mir ansonsten entgegenfahren. Dazu kam, dass ich eigentlich nur einen oder zwei Läufe in diesem Jahr vorzuweisen hatte, die überhaupt nur nahe an die 30-Grad-Marke gekommen wären. Das waren alles starke Gegenargumente – dennoch war ich bereit, es wenigstens zu versuchen. Sarah würde mich ab etwa 14 Uhr mit dem Rad begleiten können und meine Wasservorräte ergänzen, so dass zumindest die Sicherheit gut gewährleistet sein würde.

Jipp.

Also ging ich früh zu Bett, stand gegen fünf auf und war pünktlich um sechs auf der Strecke. Ich lief in einen wunderschönen Sonnenaufgang hinein und hinunter nach Dahlhausen, wo ich die Schwimmbrücke überquerte.

Den Sonnenaufgang betrachtete ich mit einem lachenden (schön) und einem weinenden (bald scheißheiß) Auge.

Die Ruhr sollte nur für einen vergleichsweise kurzen Moment mein Begleiter bleiben, denn in Steele schlug lief ich die Grugatrasse hinauf bis auf den RS1.

Kann man einfach nicht verbessern: Die Ruhr.

Dort bekam ich es zum ersten Mal für längere Zeit mit der mittlerweile schon recht war gewordenen Sonne zu tun. Das war noch auszuhalten, aber mir war klar, dass das nur ein kleiner Vorgeschmack war. Ich lief den furzlangweiligen Schnellweg entlang und nach Mülheim hinein. Hier verfranzte ich mich und musste mir einen alternativen Weg durch die Stadt suchen. Das war mühsam und nervig und ich merkte bereits hier, bei Kilometer 33, dass es ziemlich anstrengend wurde. Zusätzlich verpasste ich durch meine Alternativroute den ersten Supermarkt um einen Kilometer, den ich mir nun sehnlich herbeiwünschte. Ich fand etwas abseits der Strecke einen weiteren, der auch einen Friedhof in der Nähe hatte – ein perfekter Wasseraufnahmepunkt. Im Supermarkt holte ich mir eine Cola und ein Eis und füllte anschließend auf dem Friedhof meine Flaschen wieder auf. So lief ich weiter – nun für eine Stippvisite auf Oberhausener Stadtgebiet – und kam nach einer Weile in die Ruhrauen direkt vor dem Hafen.

Es wurde einfach zu warm, als ich nach Duisburg kam.

Hier stand die Luft bei gleichzeitig nicht vorhandenem Schatten und es war kaum möglich, die zwei, drei Kilometer durchgehend zu laufen. Seit dem Friedhof bei Kilometer 36 war ich auf der Strecke bis zum Duisburger Hafen etwa fünf Kilometer gelaufen, während ich einen Liter getrunken hatte, und musste dennoch immer wieder Pausen machen. Dabei war es nicht mal Mittag. Die große Hitze würde erst noch kommen. An ein Ankommen bis 20 Uhr war nicht zu denken und die logistische Lage würde nach der Rheinüberquerung auch nur noch schlechter werden. So verwarf ich den Gedanken noch wenigstens bis Kilometer 60 durchzuziehen. Sicher wäre das möglich gewesen, denn im Grunde fühlte ich mich körperlich nicht schlecht – aber sinnvoll war es nicht, zumal ich von Duisburger Hauptbahnhof eine halbe Stunde nach Hause fahren würde, während es auf bereits unmittelbar von der anderen Rheinseite aus zwei Stunden mehr dauern würde. Also entschied ich mich, zum Bahnhof zu laufen und dort dann nach 45 Kilometern den Lauf zu beenden.

Auch in Duisburg gibt’s schöne Ecken. Ich sach’ ja nur.

Gerne wäre heute ich natürlich in Venlo angekommen und am Ende mit einem Hitzehunderter angegeben. Ich finde es wichtig, bekloppte Ideen gegen alle Stimmen auch mal anzugehen, aber es ist wichtig, dass man das mit dem rechten Augenmaß und der gebotenen Skepsis und Vorsicht tut. Ich habe schon einige Erfahrungen bei derartigen Hitzeschlachten gesammelt und kann mit gutem Recht behaupten, mich selbst sehr gut einschätzen zu können. Nur mit derartigem Wissen sollte man sich überhaupt in solche nahezu supportfreie Abenteuer begeben – und man sollte – wie ich heute – der Möglichkeit zu scheitern sehr viel offener entgegentreten, als zu weniger harten Bedingungen. Der Grat zwischen zu frühem, rechtzeitigem und zu spätem Abbruch eines solchen Laufs ist schmal. Man muss lernen, wie weit man gehen kann – und auch entscheiden, wie weit man gehen will (oder besser: laufen). Denn “zu früh”, “rechtzeitig” und “zu spät” sind Kategorien, die jeder für sich selbst bewerten muss. Ich bin durchaus dafür, es sich selbst nicht zu leicht zu machen, aber der Treiber sollte man immer selbst sein, nicht die Frage, was die Anderen denken mögen. Die können es halten wie sie wollen, denn sie müssen die Entscheidung am Ende ja nicht ausbaden.

Für mich hat das Ultralaufen sehr viel mit Scheitern zu tun. Mit Schmerzen und Verzweiflung, die, wenn man alles richtig macht, umschlagen in Glücksgefühle, Stolz und Selbstbewusstsein, eine Stärkung des ganzen Menschen.

Aber mit all dem im Kopf: macht mal, und schaut, wie weit Ihr kommt. Am Ende habt Ihr es wenigstens versucht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert