“Ich bin im Moment nicht so schnell, ich mache ganz entspannt.” Wenn ich diesen Satz kurz vor dem Start eines Laufwettkampfes äußere, strafe ich mich selbst oft bereits nach einigen Kilometern lügen. Was das mit dem Herbstwaldlauf 2018 zu tun hat? Nun ja, ich erinnere mich sehr gut, allen Bekannten gegenüber kurz vor dem Start gesagt zu haben: “Ich bin im Moment nicht so schnell, ich mache ganz entspannt.”
Der Bottroper Herbstwaldlauf ist eine Institution. Obwohl der Satz “der einzige Ultramarathon, der im Ruhrgebiet gelaufen werden kann” so nicht mehr stimmt, ist er nach wie vor ein fester Termin im Kalender vieler Ultras aus der Region (und ich meine hier nicht die aus dem Stadion mit den Pyros und der Abneigung gegenüber der Polizei). Das dürfte einerseits an der großartigen Start-Ziel-Location, dem Bergwerk Prosper-Haniel, liegen, dessen Räumlichkeiten die knapp 2000 Läufer auf den Strecken zwischen 6,7 und 50 Kilometern problemlos aufnehmen. Es ist eben etwas ganz Besonderes, seine Tasche und Wechselkleidung in den Waschkauen der Bergleute aufhängen und dort auch duschen zu können, viel mehr Ruhrgebiet kann ein Lauf wohl nicht enthalten. Nicht nur die Form aber war 100% Ruhrgebiet, sondern auch der Inhalt: hier trifft man wirklich viele liebe Gesichter, kommt an den in beide Richtung gelaufenen Streckenabschnitten aus dem Grüßen nicht mehr raus und freut sich allzeit über die vielen endlich normalen Bekloppten.
Klar ist also, dass es für mich absolute Pflicht war, auch dieses Jahr wieder hier zu starten. Ich hatte mir ja ohnehin am Ende des Sommers wieder vorgenommen, in Herbst und Winter besonders die 50km-Strecke zu trainieren. Rodgau ist schließlich nur einmal im Jahr.
Mit zwei Wochen zuvor beim Adler 30er aufgefrischter Streckenkenntnis fuhr ich am Renntag also in den Birkhahnweg nach Bottrop, wo das menschliche Parkleitsystem bereits ganze Arbeit leistete und den Ansturm meisterte. Dieses Jahr war ich erst eine halbe Stunde vor Anpfiff angereist, so dass ich ein paar Meter mehr laufen musste. An sich kein Thema, aber immer doof, wenn man auf dem Rückweg ist; auch dem erfahrenen Ultra geht nach 50 Kilometern erfahrungsgemäß der Rückweg zum Auto nicht mehr ganz so viskos und rund von der Hand, wenngleich er die Hände vermutlich lieber benutzen würde, als die arg angegriffenen Beine und Füße. Egal: während ich noch meinen Kram sortierte, eilte auch schon René auf mich zu, der die 25km laufen wollte. Da wir uns seit der Tortour nicht mehr gesehen hatten, fiel die Begrüßung dementsprechend üppig aus.
Zusammen begaben wir uns schließlich ins Foyer des Bergwerks, wo bereits viele andere Bekloppte schnatternd ihrer Starts harrten. Die Startnummernabholung nahm etwa eine halbe Minute in Anspruch (gut organisiert ist eben gut organisiert!), so dass ich mich schnell in die Kaue begeben und meine Sachen an einen der noch freien Haken hängen konnte. Noch die Startnummer befestigen und ab nach draußen, wo ich Henning begegnete, der am Ende den zweiten Platz ergattern konnte. Auch Kati, die großartige Marina, Saskia und Michael, Andreas, die beiden Matthiasse, Jens und viele Andere waren da.
Das Wetter war perfekt und trotz meiner eher kühlen Kleiderwahl fror ich während der 20 Minuten Wartezeit nicht. Beim Gespräch mit den Anderen bekräftige ich, im Moment nicht so schnell zu sein und ganz entspannt machen zu wollen. Die Anderen nickten wissend.
Ich trug – wie so oft in diesem Herbst – über dem Thermoshirt eines meiner beiden Tortour-Shirts, auch in diesem Punkt meiner vorherigen Meinung widersprechend, derartiges Gepose sein lassen zu wollen.
Nachdem ich jetzt bei einigen Veranstaltungen damit gelaufen bin, muss ich allerdings sagen, dass das Shirt mich mit vielen Leuten – teils selbst Tortouristen, teils Interessenten – ins Gespräch gebracht hat. Nach den vielen sehr herzlichen Begegnungen kann ich sagen, dass das Shirt für die wenigsten eine Pose ist, sondern vielmehr eine Familienzugehörigkeit demonstriert, eine Zuneigung und die Hingabe für einen Sport, der seinen Athleten Vieles abverlangt und viel mehr zurückgibt. Und klar, wir sind auch alle stolz auf diese Leistung…
In Sachen Schuh habe ich mich angesichts des sehr leichten Geländes im Wald für die Geschwindigkeitsoption entschieden und mein zweites Paar Altra Duo (das mit den nicht ganz so großen Löchern) entschieden, was sich als gute Wahl herausgestellt hat.
So stand ich also dort mit den Anderen im Startbereich, oben und in der Mitte schwarz und unten blau. Einige Minuten später – die übliche Ansprache, bei der keiner zuhört, war beendet – ging es auch schon los und wir rannten vom Gelände in Richtung Herbstwald.
Freundlicherweise hatten die Veranstalter dieses Jahr erreicht, dass die Laufstrecke über die Haldenzufahrt führen durfte, was uns die Überquerung der Brücke und einen schmerzhaften Anstieg am Ende der beiden Runden ersparte. Darüber würde ich im Rennverlauf noch sehr froh sein…
Schon sehr bald begann ich, mich in meiner Haut wohlzufühlen. Das Feld war noch sehr dynamisch und wir liefen in lockeren Gruppen in Richtung Alter Postweg. An der Landstraße angekommen, folgten wir dem Straßenverlauf ein paar hundert Meter, bis wir die Straße überquerten und endgültig in den Herbstwald eintauchten.
Nach einer Weile tauchte Michael neben mir auf, der mir bereits am Vortag bei der Durchsicht der Teilnehmerliste aufgefallen war, weil er in Herdecke wohnt. Wir kamen ins Gespräch und liefen eine ganze Weile gemeinsam. Ein paar Kilometer später gesellte sich Alexander zu uns, der als Ultra-Veteran eine Menge zu erzählen hatte. Er meinte,er laufe eigentlich viel zu schnell, weil er kein Tempo mehr gewöhnt sei, er werde das sicher bald bereuen. Irgendwie zog es mich mit ihm mit, so dass wir Michael am Koppelweg hinter uns ließen und das Tempo ein wenig anzogen. Zuvor waren wir einem einem Schnitt knapp über fünf unterwegs gewesen, jetzt legten wir einen Scheit drauf und liefen Splits zwischen 4:35 und 4:50. Das war nicht sehr nachhaltig für das zweite Drittel des Rennens, doch es machte einfach Spaß; spätestens, als wir das Feld der Zehnkilometer-Läufer von hinten aufzurollen begannen, war es um die Zurückhaltung ohnehin geschehen. Wir liefen als Zweierteam fast unbeschwert durch das Zehnerfeld, das sich weit auseinandergezogen hatte und auch auf dem Rückweg zum Start-Ziel-Bereich zahlreich vor uns lief. Wir flogen den Waldweg zum Bergwerk hinauf, liefen durch den Zielbogen und in die zweite Runde.
Im Gefälle hinab in Richtung Landstraße legten wir bisweilen eine Zahn zu. Wir begegneten vielen lieben Gesichtern und kamen aus dem Grüßen gar nicht mehr heraus. Wie schön, diese Gemeinschaft!
Erst zurück im Wald gelang es mir, unsere Beschleunigungskaskade zu druchbrechen. Ich kündigte an, etwas Tempo rausnehmen zu wollen, um Körner für die letzten Kilometer zu sparen – eine gute Strategische Entscheidung, die allerdings nicht lange vorhielt, denn nach einem Kilometer in 5:05 kraxelte gerade ein Läufer aus dem Gebüsch (was macht man wohl auf einem Ultra im Gebüsch? Pilze sammeln jedenfalls nicht…) und schloss sich uns an. Irgendwie war meine Entscheidung, langsamer Laufen zu wollen, die unsere Kleinstgruppe gebremst hatte, durch unseren Neuzuwachs anscheinend annulliert worden; und irgendwie blieb ich an den beiden dran, wenn auch mit deutlich mehr Mühe, als zu diesem Zeitpunkt gut gewesen wäre. So liefen wir weiter Kilometer um Kilometer durch den Wald, der mir plötzlich so viel größer vorkam, über Streckenabschnitte, an die ich mich von der ersten Runde gar nicht mehr erinnern konnte. Jeder leichte Höhenunterschied war nun deutlich spürbar. Wir liefen weiter und weiter, während mir das Tempo wahnsinnig vorkam, doch ich zog mit, wenn auch unter großer Anstrengung. Ab Kilometer 35 musste ich ein wenig nachlassen, während Alexander weiter lustig darüber plauderte, dass es ihm sicher bald schlecht ergehen würde. Ich schnaufte nur, während ich innerlich im Schein des Lagerfeuers meine Pain Cave bunt ausmalte. Ich würde noch 15 Kilometer hier zubringen müssen und es würde dunkler und bedrohlicher werden, da schienen mir ein paar lustige Motive angebracht. Noch ging es aber eigentlich recht gut. Der Puls war okay, ich hatte noch genug zu trinken und an die Beine dachte ich einfach gar nicht.
Dann kamen wir in Richtung der Marathonmarke. Alex war es wichtig gewesen, den Marathon in unter 3:30 zu absolvieren, das war er noch nie angegangen. Ich sagte die Zeiten an, als wir der Marke nahe kamen – wir erreichten Alex’ Ziel und absolvierten den Marathon in 3:27:21, was meinen Mitstreiter, der immerhin unter anderem die Tortour 2016 über 230 Kilometer in nur 34 Stunden absolviert hatte, sehr freute. Das fand ich ulkig. Wir schlugen ein und ich vergaß für eine kurze Weile, dass ich eigentlich am liebsten nach Hause wollte. Seit Kilometer 40 war es dunkler und dunkler in meiner Höhle geworden. Ich konzentrierte mich auf Alex, der ungerührt vor mir lief und mich anstachelte, während wir den schier endlosen Windungen der Strecke durch diesen verdammten Wald folgten. Wir umrundeten den Heidesee ein letztes Mal und kamen endlich an die Straße, die wir aber erst in zwei Kilometern überqueren würden. Dennoch erschien sie mir in diesem Moment, wie eine Verheißung. Die letzten fünf Kilometer lagen nun vor uns und ich stöhnte leise bei jedem Atemzug. Die Streckenposten jubelten uns zu, während ich mit den Grundfunktionen meines Körpers ausgelastet war und Alex scheinbar mühelos vor mir herlief.
Endlich erreichten wir die Straße! Keuchend lief ich den Radweg entlang, bis wir in Richtung Bergwerk wieder in den Wald abbogen. Wir überholten zwei Läuferinnen, die mich ansprachen – ich weiß bis heute nicht, wer das war, doch ich winkte nur und gab einen Grunzlaut von mir. Herzlicher ging es nicht mehr. Der Sprung über die Abflussrinne an der Haldentrasse tat richtig weh und die anschließende sanfte Steigung war auch irgendwie wesentlich steiler geworden. Etwa zwanzig Meter hinter mir nahm ich Michael wahr, der aufgrund meines Einbruchs wieder aufgeschlossen hatte; wenigstens nicht überholt worden zu sein, war mir ein letzter Antrieb, noch einmal alles in die letzten zwei Kilometer zu legen. Ich stöhnte laut und unkontrolliert mit jedem Atemzug. Die Beine waren leer, doch Alex feuerte mich an. Der Blick auf die Uhr zeigte: es könnte knapp eine neue Bestzeit werden! Auf den letzten paar hundert Metern hatten wir wieder glatten Asphalt unter den Füßen und ich lief wie um mein Leben, während mir mein Körper mit dem Abbruch eben desselben zu drohen schien. Als wir um die Ecke kamen, wurde der Blick auf die Zeitnahmetafel frei: sie war gerade auf 4:09 umgesprungen. Irgendwo war da noch Energie für etwas mehr Geschwindigkeit. Alles tat weh, die Lungen brannten, das Herz suchte nach Wegen, sich freiwillig auf die Spenderliste setzen zu lassen, um diesem Wahnsinn endlich zu entkommen und meine Oberschenkel nahmen sich fest vor, nie mehr mit mir zu reden, wenn sie das hier überleben würden. Alex ließ mir den Vortritt und so lief ich als 32. von 252 Finishern durchs Ziel. Dass ich Vierter meiner Altersklasse war, war mir herzlich egal, als ich auslief und keuchend noch ein paar Schritte tat.
Mein Körper wollte nicht mehr, mir war schwindelig. Ich suchte mir einen Platz auf dem Bordstein neben einem der Versorgungsstände und setzte mich darauf, an ein Schild gelehnt. So ging es eigentlich. Also existieren. Nicht gut fühlen. Lasst mich doch einfach hier sitzen. Die Standbesatzung fragte mich, ob es mir gut gehe und auch einer der Sanitäter kam zu mir. Ich lehnte Hilfe ab, denn es war nach einer derartigen Leistung ganz normal, dass der Körper eine Weile brauchen würde, um den Kreislauf wieder in die Reihe zu bekommen. Er war einfach überrascht, dass es doch endlich vorbei war.
Schließlich kam Michael zu mir, der nur 20 Sekunden langsamer gewesen war . Wir gratulierten einander und verabredeten uns, mal zusammen zu laufen. “Die drei Minuten sitzen waren sehr gut, das habe ich gebraucht, aber jetzt will ich mal in die Kaue gehen.” Während ich dies mit möglichst viel Zuversicht sagte, rappelte ich mich auf; sofort wurde mir wieder duselig, der Ton wurde irgendwie seltsam und die Farben der Bildübertragung unnatürlich grell. “…oder ich setze mich nochmal für zwei Minuten, und mache das dann gleich.” Ich verschnaufte noch ein bisschen, während mir ein Helfer einen dieser Platiksäcke zum Wärmeerhalt holte. Nach weiteren zwei Minuten stand ich vorsichtig auf. Bild und Ton blieben, wie sie sein sollten. Ich schnappte mir eine Cola und wankte langsam in die Kaue. Dort traf ich Henning; wir berichteten uns kurz gegenseitig von unseren Erlebnissen, während ich mich umzog. Anschließend wankte ich nach draußen, um zu sehen, wer von meinen Bekannten schon im Ziel angekommen war. Ich traf Saskia und Matthias, die in einer tollen Zeit ins Ziel gekommen waren und sprach mit einigen Anderen, doch vor allem zeigte mir mein Körper den ganz großen Stinkefinger. Ein paar Minuten war mir übel und meine Lippen waren blau, wie die Anderen mir leicht besorgt mitteilten. “Das heißt wohl, dass ich besser nach Hause fahre und mehrere Monate dusche!” sagte ich und verabschiedete mich von allen.
Ich machte mich auf die 500 Meter zum Auto. Der Klang meiner Schritte war anders, als sonst, denn er wurde ergänzt von einem Chor aus meinem Körper, der “Fuck you! Fuck you!” schrie. So stieg ich sehr bedächtig in mein Auto (wir Ultraläufer verstehen 80-90-jährige, die sich sehr mühevoll in ihr Auto setzen müssen, sehr gut!) und fuhr in Richtung Heimat. Der Abstand zur Anstrengung, die Heizung und das Versprechen, zu Hause sehr viel Kuchen und Abendessen zu mir zu nehmen, versöhnten Soma und Psyche wieder miteinander. Es war Zeit für Emotionen. Der Stolz sickerte langsam durch den Schmerz hindurch. Ja, Kuchen, das war doch eigentlich eine gute Perspektive.
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