Why we run
Es gibt Veranstaltungen, die sind an sich großartig. Weil sie z.B. Ultraläufe sind. Oder Ultraläufe an der Ruhr. Noch besser aber ist es, wenn Ultraläufe dabei helfen, etwas Gutes zu tun, etwa indem sie die Erinnerung an etwas hochhalten und uns zeigen, wie viel Glück wir bei aller Kritikwürdigkeit der Verhältnisse haben.
Kaum ein Ort der jüngeren Geschichte ist geschichtsträchtiger, als Berlin – das zeigt allein schon die Dichte der Erinnerungsorte in unserer Hauptstadt: besonders die NS-Zeit und die deutsche Teilung sind aufgrund vieler Leerstellen in der Stadt nach wie vor spür- und nahezu greifbar.
Was für den Nationalsozialismus nahezu abgeschlossen ist, droht nun auch für die DDR: die Reihen der Zeitzeugen lichten sich, während die Baulücken geschlossen werden und während “zusammenwächst, was zusammen gehört”, wächst auch die Gefahr des Vergessens und der Relativierung. Dagegen hilft Anschauung. Begreifen und Ergriffenwerden. Sich hineinversetzen in die Menschen. Wenn man dann in der Rotunde steht und ein historisches Mauerpanorama aus westlicher Sicht betrachtet, ungläubig auf den markierten Mauerverlauf schaut, der sich quer über den heute stark belebten Potsdamer Platz zieht, oder durch das Brandenburger Tor geht und an die Bilder vom Mauerfall denkt, als dieses Gelände noch Niemandsland war, bekommt man zum ersten Mal eine Ahnung, was das für ein Gefühl gewesen sein muss, als die Stadt noch geteilt war und tödlich enden konnte, was wir nun mit wenigen Schritten tun, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden: von Ost- nach West-Berlin gehen.
Wir Ultraläufer sind ein verschworener Haufen Leute – wir haben oft selbst erfahren, was Menschlichkeit bedeutet, weil wir so manches Mal auf das Menschsein zurückgeworfen waren; nicht mehr, als ein Bett, ein Essen, eine Dusche und Wärme oder Abkühlung waren das Ziel sehnsüchtiger Gedanken; Dinge, die an sich selbstverständlich sein sollten. Ebenso wie Freiheit: die Freiheit, seine eigene Meinung zu haben, zu tun, was man will, solange es niemandem schadet und hinzugehen, wo man will. Die DDR hat ihren Bürgern all diese Rechte genommen. Sie hat weggesperrt, gefoltert, schikaniert und auch getötet, wer diese Rechte dennoch in Anspruch nehmen wollte. Allein dem Grenzregime der DDR sind nach heutigem Forschungsstand 140 Menschen zum Opfer gefallen. Und hier kommen alle Fäden, die ich aufgesponnen habe, zusammen: Ultraläufer sind solidarische Menschen – aus der Erfahrung der Machtlosigkeit haben sie gegenseitige Solidarität und Respekt voreinander entwickelt. Was wäre da besser, als im Andenken an die Opfer des Mauerkomplexes, hinter dem zahllose Menschen mit einer direkten oder indirekten Schuld stehen, einen Ultralauf zu begehen, jedes Jahr im Namen eines der Getöteten. Im langsam zuwachsenden und heilenden eine kleine Narbe offen halten und an das Schmerzhafte erinnern, nicht im Sinne einer Folter, sondern im Sinne einer Warnung und Mahnung, die uns unser Glück, in einer anderen Zeit leben zu dürfen, um so deutlicher macht.
Wie der nicht mehr ganz jungfräuliche Läufer zum Ultra-Kind – oder: Wir fahren nach Berlin!
Nicht weniger als dieser Anspruch war es, seitdem ich das erste Mal von diesem Lauf gelesen und zugleich beschlossen hatte, ihn irgendwann in ferner Zukunft einmal laufen zu wollen. In diesem Jahr allerdings hatte die Tortour Vorrang; einen weiteren 100-Meiler wollte ich nicht planen, zudem eine spontane Teilnahme immer mit einer gewissen Vorlaufzeit und Mühe verbunden ist, die ich mir im auch sonst so zeitintensiven Sommer nicht antun wollte (An dieser Stelle sei mit Bewunderung auf die Leistung von Marina Kolassa hingewiesen, die in vier Monaten die Tortour 160, den Kölnpfad 170 und den vollen Mauerweg gelaufen ist – ein Hammer!). Nach dem Ende der Tortour ergab es sich aber, dass Sven der Zweierstaffel-Mitstreiter ausfiel. Er suchte also nach einem neuen Bekloppten, der mal eben für einen 70-km-Lauf einspringen würde – wer ist so bescheuert? Na klar, ich! Nach einigem Hin und Her war es beschlossene Sache: Wir fahren nach Berlin! Caro musste ich nicht lange überzeugen und so war dann nach kurzer Suche auch noch ein einigermaßen günstiges Hotel in der Stadtmitte gefunden und zwei Flüge gebucht, bei geplanter Anreise am Donnerstag war also bei meinem ersten Berlin-Besuch auch noch ein wenig Sightseeing drin.
Die folgenden Wochen zogen ins Land, der Kölnpfad flog nur so an mir vorbei, wie auch der Früh- Mittel- und Hochsommer, und schon war August und besagter Donnerstag erschien auf der Datumsanzeige meiner Laufuhr. Und zwar – das war das Schlechte an der Sache – bevor ich schlafen ging. Memo an mich: das nächste Mal nicht den Flug um acht buchen, wenn ich erst um halb eins ins Bett komme! Reichlich zerknautscht bestiegen wir also einen Flieger in Richtung Hauptstadt und pimmelten mit unserem Gepäck auf dem Alex herum, weil die gewonnene Zeit uns nicht viel brachte und unser Hotelzimmer erst ab drei bezugsfertig werden würde. Ich nutzte die Zeit, die Pasta-Party mit einem Teller Spaghetti Carbonara bereits einen Tag früher einzuläuten (gute Vorbereitung ist ja so wichtig!). Das Essen wurde schnell fertig, da es bei den vorherrschenden Temperaturen nur kurz auf den Gehweg gestellt werden musste, damit alles erhitzt wurde und der Käse schmolz; irgendwann schließlich war es Zeit, die U-Bahn zum Hotel zu besteigen; wir stiegen also in die stickige Unterwelt der Hauptstadt hinab und atmeten erst in unserem klimatisierten Hotel wieder auf. Nach einer Stunde Schlaf und einer halben Stunde Kampf mit der Matratze begaben wir uns erneut in die Stadt, besichtigten das Brandenburger Tor und seine Umgebung, um uns abschließend und burgeressend wieder der ernsthaften Rennvorbereitung zu widmen.
Raceday -1 (Briefing und Pastaparty)
Am Freitagnachmittag stand schließlich der erste offizielle Mauerweglauf-Termin an: Check-In, Briefing und Pastaparty lockten ebenso sehr, wie die zahlreichen Bekloppten, die es dort zu treffen galt. Vor dem Hotel trafen wir Sven, holten unsere Startnummern, Dropbags, Mauersteine, das Supporter-Shirt für Caro und den Zeittracker ab. Im Anschluss begaben wir uns ans Buffet und aßen, wie die Rohrspatzen. Netterweise gab es Eis en masse…
Das Briefing brachte mich ein wenig auf – klar, wir sind in Deutschland, da muss alles geregelt werden und es ist sicher auch wichtig, auf die Sicherheit zu achten – in Berlin Mitte ist es richtig, auf ein paar Sekunden zu verzichten und dafür am Leben zu bleiben, doch die Drohung, beim kleinsten Rotverstoß disqualifiziert zu werden, lässt mich dann eben auch an dieser kleinen, völlig verkehrsfreien und in eine Richtung gesperrten Nebenstraße irgendwo in Pusemuckel anhalten, wo selbst ich jederzeit weiterlaufen würde. Aber gut, wenn Du in Berlin bist, musst Du es machen, wie die Berliner es wollen…
Nach dem Briefing traten wir noch ein paar Minuten mit dem Anderen zusammen, doch besonders die 100-Meilen-Läufer und die frühen Staffelteilnehmer wurden plötzlich unglaublich müde (vermutlich ein versuchter Selbstbetrug, ähnlich dieser Sache mit dem künstlichen Lächeln), so dass unsere Gruppe in Bälde auseinanderstieb. Zeit also, unser nach wie vor bestehendes Problem zu lösen: wir waren ja mit dem Flugzeug angereist; dummerweise aber nicht mit dem eigenen, so dass wir auf einen Dienstleister angewiesen waren, der mit dem Raum und der Zuladung recht knauserig umgeht und für die Beförderung sperrigen Guts eine Menge Geld verlangt – da so ein Fahrrad – besonders für eine große Frau wie Caro – nicht unbedingt ins Handgepäck passt, entschieden wir uns für die Mietoption. Nun aber stellte sich heraus: man kann sich im Internet kennenlernen und tolle Aktionen beginnen, Flüge und Hotelzimmer buchen, ja selbst von anderen Kontinenten aus die heimische Kaffeemaschine einschalten oder den Postboten beschimpfen – aber ein Fahrrad per ÖPNV von Mitte nach Sacrow transportieren (O-Ton BVG-Mitarbeiter: “Sacrow? Wie wird’n ditt jeschriebn? Mit K? Ditt muss ick ma nachschauen, ach, ditt is ja nichma mehr Berlin!” – Ja, es gibt auch noch Orte außerhalb von Berlin – die haben sogar Strom! Aber kein Netz…), das ist schwer bis unmöglich.
Das Fahrrad, Du und ich
Am nächsten Morgen sprang ich aus dem Bett – mit acht Stunden hatte ich recht lange geschlafen und der Tag war sehr gemütlich geplant, fast perfekt! Nicht für meinen Kopf, der sagte: “Du bist müde! Du musst noch so viel schaffen heute und dann auch noch laufen und Du weißt ja gar nicht, was da noch alles passiert und vor allen Dingen bist Du müde! Müdemüdemüde!” Caro musste so einiges abfedern und akzeptierte, dass meine Antwort auf Aktivitätsvorschläge ein wenig ruppig ausfiel.
Meiner schlechten Laune und Unlust verdankten wir immerhin, dass wir glücklicherweise direkt zum Fahrradverleih gingen, denn die heiß versprochene Reservierung eines passenden Gefährts hatte natürlich nicht funktioniert und wir mussten den Samstagvormittag damit zubringen, einen Ersatz zu besorgen, dieses per U-Bahn durch die halbe Stadt zu transportieren (weil die Busse ja keine Fahrräder transportieren) und noch gerade so ein Ticket und die Bahn zum Wannsee zu bekommen. Wie immer war Caro eine perfekte Begleitung, die mich am S-Bahnhof Alexanderplatz schon mal auf den Bahnsteig schickte, ein Mittagessen besorgte und mir Nervenbündel mit einem Schokoeis genau das richtige Beruhigungsmittel mitbrachte! <3
Der Reiseplan sah so aus: das Fahrrad, Caro und ich würden vom Alexanderplatz zum Wannsee fahren, dort die stündlich verkehrende Fähre nach Alt-Kladow nehmen und die letzten fünfeinhalb Kilometer getrennt reisen, ich im Bus, Caro mit dem Rad. Das funktionierte reibungslos, und so waren wir um kurz vor vier am Schloss Sacrow, wo sich die Wartezeit recht gut verbringen ließ. Das Wetter war zum Glück deutlich angenehmer geworden und war mit etwa 25 Grad und leichter Bewölkung so ziemlich ideal für unser Vorhaben. Sven kündigte sich telefonisch vom letzten VP vor dem Wechselpunkt an und trudelte nach einem halben Stündchen dann auch bei uns ein. Ein kurzes Gespräch, ein paar Schulterklopfer, und schon war ich dran. Zuvor hatte ich die Live-Ergebnisliste studiert: wir lagen auf dem fünften Platz – ein guter Anreiz!
Das Rennen
Ich lief also an, mit dem groben Ziel, so lange wie möglich bei einer 5:30 zu bleiben. Es war zwar noch ein wenig warm um kurz vor fünf, doch wir liefen den größten Teil der Zeit im Schatten, so dass die Sonne uns eigentlich nichts anhaben konnte. Auf den ersten zwei Kilometern überholte ich eine Menge 100-Meilen-Läufer, die an ihrer maximal dreistelligen Startnummer und am geringeren Durchschnittstempo zu erkennen waren. Wie immer gab es bei jedem Einzelnen gegenseitige Respektsbekundungen, wenigstens einen gehobenen Daumen.
So liefen wir zurück nach Kladow, durch Groß-Glienicke und erreichten den ersten VP. Es war ein wenig schade, doch nach etwas über sieben Kilometern war es Unsinn, am legendären VP “Pagel&Friends” Halt zu machen. Ich entschied mich, weiterzulaufen, um keine Zeit zu verschwenden. So nahm ich nur ein wenig Anfeuerungsapplaus mit und wir liefen weiter und in einem fixen Tempo – es lief sich sehr dynamisch und locker und ich fühlte mich ziemlich wohl.
Am nächsten VP bei km13 füllte Caro meine Flaschen auf und ich stopfte mir mit Appetit ein paar Waffeln, Käsebrote und ein wenig Süßkram in den Mund, immer den Blick auf die Uhr gerichtet. Nach schnellem Boxenstopp brachen wir auf und liefen in gutem Tempo weiter, wodurch wir unseren Zeitverlust wieder hereinholen konnten. Wir quatschten locker, machten Faxen und pimmelten so die Zeit weg, immer einen VP auslassend und mit reichlich Wohlgefühl im Geläuf. Diese Rechnung ging ziemlich lange auf, denn auch am Heiligensee, wo wir eigentlich gar nicht mehr weg wollten, und bis nach Henningsdorf hinein, waren wir weiterhin fix unterwegs. Danach wurde es allerdings recht hügelig und unser Tempo drosselte sich leicht. Den nächsten VP im Tegeler Forst durchliefen wir wieder. Voller Zuversicht winkten wir der Besatzung zu, bogen um die Kurve und schauten erstmal doof, als es vor uns etwa 10% aufwärts ging. Caro nahm Fahrt auf, setzte die volle Kraft ihrer sieben Gänge ein und ich hechelte hinterher. Dass leicht profilierte Gelände hielt bis Glienicke/Nordbahn an, wo es schließlich so dunkelte, dass wir unsere Warnwesten (übrigens eine sinnvolle Vorschrift) und Lampen anlegten. Es drückte mich immer mal wieder untenrum, doch ich war noch zu sehr versessen, die gute Pace von immerhin noch 5:55 zu halten, denn sie weiter runterzulaufen schaffte ich kaum noch. Nach ein paar Schlenkern durch Wohngebiete erreichten wir die Niedermoorwiesen am Tegeler Fließ. Hier liefen wir ganz alleine und in der völligen Dunkelheit der ehemaligen Mauertrasse. Die Zeit der Teilung schien in diesem so schönen Naturschutzgebiet nachzuhallen. Während wir so sinnierten, zwang ein ganz bodenständiges Drücken mich für einen Moment ins Gehen und mit letztem Nachdruck dazu, für den nächsten VP endlich einen Besuch im blauen Salon einzuplanen. Während wir zum “Checkpoint Qualitz” hinaufschnauften, instruierte ich Caro, dass wir für die letzten 13-14 Kilometer auf Cola umsteigen würden, mit einer weiteren Flasche Iso in Reserve. Caro besorgte alles nötige und ich begann mein Meeting mit mir selbst, wofür ich mir die nötige Zeit nahm. So verloren wir acht Sekunden, die ich bis zum Ziel nur noch um eine Sekunde verbessern konnte (danke auch, Ampelregelung!). Am VP an der Kopenhagener Straße machten wir einen letzten Cola-Tankstop und freuten uns auf die letzten sieben Kilometer, die wir in lockerem Tempo zurücklegten. Es wurde jetzt langsam urbaner, aber bis Kilometer 57 suchten wir vergebens nach den gefährlichen Ecken, an denen es gerechtfertigt wäre, ein Headset auf den letzten 20km komplett zu verbieten. Als wir über den Schwedter Steg liefen, bot sich ein wunderbarer Blick auf den Fernsehturm auf.
Wir verbummelten noch eine weitere Sekunde an einer menschen- und autofreien Ampel, zogen das Tempo voller Vorfreude auf das Ziel ein wenig an und traten auch schon in den Jahn-Sportpark ein, wo wir von Volunteers und anderen Läufern angefeuert wurden – kurz vor dem Eingang zur Tartanbahn sprang eine Gestalt auf, rief mir meinen Namen hinterher und entpuppte sich als Sven, der mit seinen 90-Kilometer-Beinen in meinen Endspurt einsteigen musste und deutliche Schmerzlaute von sich gab. Wir liefen gemeinsam die Ehrenrunde bis ins Ziel und zogen Resümee. Dann schließlich ein letztes Tracker-Piepen beim Zieldurchlauf, Medaillen, Finishershirts, Zielfotos und das wohlverdiente Zielbier, ein wenig quatschen, und frierend in Richtung U-Bahn humpeln. Müde, aber auch stolz auf die Tatsache, dass ich uns noch auf den vierten Platz hochgelaufen hatte, fuhren unser Fahrrad, Caro und ich wieder zurück zum Hotel, wo ich das Fahrrad ein wenig beneidete, weil es im Erdgeschoss bleiben durfte – wir gönnten uns den Luxus einer Aufzugfahrt und ich zählte die wunden Stellen auf, die mich gleich unter der Dusche zum Weinen bringen würden. Im Anschluss an ein paar schmerzhafte, aber auch wohltuende Augenblicke unter der Dusche schauten wir noch ein wenig fern, stellten der allgemeinen Auszehrung von Körper und Geist eine Tüte Chips als Sofortmaßnahme entgegen und schliefen schließlich wie die Steine.
The day after – the job is done
Caro war so gnädig, mich am nächsten Morgen noch ein wenig schlafen zu lassen, während sie das Fahrrad zurückbrachte – so saß ich kurz vor ihrer Rückkehr frühstücksfertig auf dem Bett und futterte Pickups, während ich auf sie wartete. Wir fraßen dem Hotel die Haare vom Kopf, packten nach getaner Arbeit die Koffer und begaben uns auf den letzten Akt des Mauerweglaufs, die Siegerehrung. Während wir dort schnatternd auf den Beginn der Veranstaltung warteten, liefen im Jahn-Sportpark – nur Minuten vor dem 30-Stunden-Cutoff – nach wie vor Leute ins Ziel, live in den Saal übertragen und jedes Mal von allen Anwesenden frenetisch beklatscht. Unsere Unruhe wich der Erleichterung, als die Zweierstaffeln als erste aufgerufen wurden, wodurch unser äußerst knapper Zeitplan sich deutlich entzerrte. Die Siegerehrung begann allerdings zunächst mit dem Gedenken an Jörg Hartmann, der 1966 als zehnjähriger zu seinem in Westberlin lebenden Vater wollte und von Grenztruppen mit mehreren Kopfschüssen getötet wurde. Seine ehemalige Klassenlehrerin war anwesend und erzählte, wie die Sache vertuscht wurde. Sie hat sich seitdem sehr für das Andenken Jörg Hartmanns eingesetzt und in meinen Augen die Medaille geadelt, die sie mir um den Hals gehängt hat.
Da wir im Anschluss direkt zum Flughafen fuhren und ich das Metall eh wieder würde vorkramen müssen, ließ ich sie einfach bis zur Sicherheitskontrolle dort, was mir die seltsame Erfahrung zuteil werden ließ, wie es ist, mit einer Medaille um den Hals durch den Flughafen Tegel zu laufen, während in der Stadt eine Leichtathletik-EM stattfindet – selbst für mich als Ultraläufer, der so manchen Blick gewohnt ist, war so manch’ Neues dabei…
Was bleibt? Der Mauerweg und ich.
Im Nachhinein bin ich – bei allem Trubel um die Fahrradgeschichte sehr froh, eingesprungen zu sein. Auch, wenn ich “nur” die “kurze” Ultradistanz gelaufen bin, habe ich mich sehr wohl gefühlt und einige Neue Erfahrungen gewonnen. Caro war als Fahrradbegleiterin und besonderer Mensch an meiner Seite wieder mal Gold wert! Ich in sehr froh, dass sie mich so unterstützt und als Begleiterin alles in die Waagschale wirft, um mir ein möglichst gutes Rennen zu ermöglichen!
Ganz subtil dürfte zwischen den Zeilen klar geworden sein, dass ich mit den Regelungen zu Ampeln und Musik nicht ganz einverstanden bin. Dennoch habe ich mich brav daran gehalten, wenn auch teilweise mit einem Kopfschütteln. Man muss ja auch nicht alles verstehen. Abseits davon stimmt aber auch eine ganze Menge beim Mauerweglauf: die Streckenmarkierung war die erste überhaupt, bei der ich keinen Track auf der Uhr gebraucht habe, wirklich großartig gemacht! Nahezu jeder VP auf meinem Abschnitt war gut ausgestattet, bot einen der berühmten blauen Salons mit dem weißen Dach und wurde von sehr aufmerksamen und netten Helfern in Schuss gehalten. Die Strecke – in meinem Fall der sehr grüne westliche Abschnitt – war wirklich schön, was den Veranstaltern eigentlich nicht angerechnet werden kann, da die Streckenauswahl bereits vor einigen Jahrzehnten getroffen worden ist.
Zudem ist mir die Verbindung zum Gedenken an die Opfer und das Leid, das die deutsche Teilung verursacht hat, sehr wichtig. Nicht allein dieser Umstand wird dazu führen, dass ich für mehr wiederkommen werde – ich denke, das wird 2020 der Fall sein.
Mit mir selbst bin ich – angesichts des Tributs, den zwei große Ultras und wenig Trainingszeit mir in Sachen Tempo abgefordert haben – sehr zufrieden! Die Boxenstops waren sehr nah an der Ideallinie – laut Auswertung habe ich lediglich rund 20 Minuten ohne Bewegung verbracht und das Nötigste erledigt. Am Ende hätte ein bisschen mehr Essen mich sicher noch ein bisschen länger bei der Stange gehalten – ein Problem, an dem ich noch arbeiten muss. Es lief insgesamt ziemlich rund und schnell, ich war durchgehend bester Laune und habe die Lust am Lauf bis zum Ende nicht verloren. Zudem machte sich bezahlt, dass ich gegen Ende des Laufs stets einen Kilometer aufschlage – dieses Mal führte das zu einer angenehmen Überraschung.
Der Lauf hat meinem Selbstbewusstsein gut getan und mir große Lust auf das Herbst- und Wintertraining bereitet. Ich bin voll motiviert, auf allen Ebenen die Bestzeiten anzugreifen und im nächsten Jahr wieder einen flachen 100-Meiler anzugehen.
Zur Ampelregelung: Es gleicht einem Wunder und sollte auch mit Dankbarkeit bedacht werden, dass das Ordnungsamt Berlin Mitte uns da ohne teure Absperrung und weitere Auflagen laufen lässt. Ein Einhalten der StVO ist da ein Kleines. Jeder Läufer, der sich nicht an Regel hält, riskiert ja nicht nur die eigene Disqualifikation, sondern auch dass die Veranstaltung im nächsten Jahr wieder stattfinden kann.
Praktisch bei Radbegleitung: Radler vorschicken, damit er schon mal den Knopf drücken kann. Oder checken kann, ob es dann eh nach links/rechts weg geht und man nach 100 Metern die Straße unbeampelt queren kann.
Herzlichen Glückwunsch zu deinem Staffelpart. Der Lauf an sich klang ja sehr krisenfrei. Wirst du mal die volle Strecke in Berlin laufen?
Lieber Marcus,
danke für den Kommentar und die Erläuterung. Ich dachte mir so etwas schon – in Mitte finde ich das auch total nachvollziehbar. Und wie gesagt: nur, weil man etwas doof findet, muss es ja nicht automatisch falsch sein 😉
Es war tatsächlich angesichts der Fahrradkrise so, dass ich in der Bahn dachte: Gott sei Dank, gleich sind wir da, dann muss ich nur noch 70km laufen das wird ja eine Kleinigkeit im Gegensatz zum Rest – und so fühlte es sich auch an, ich war, wie ein Fisch, den man zurück ins Wasser geworfen hat 😀
Wie ich am Ende schrieb, steht die volle Distanz recht weit oben auf meiner Liste, ich schätze aber, dass es erst 2020 etwas werden wird.
Hallo und herzlichen Glückwunsch! Und vielen Dank für den Bericht, schön geschrieben. Ich bin selbst in einer Viererstaffel (die letzte Etappe) gelaufen und weiß (zur Häfte), wovon Du schreibst 🙂 Und ich werde wieder kommen, wahrscheinlich in einer Zweierstaffel 🙂
Weiterhin schöne Läufe und viele Grüße aus Hamburg Frank
P.S.: Bei der Ampel- und Musikregelung bin ich übrigens ganz bei den Veranstaltern… Tut ja nicht weh, man kann ein wenig die Muskeln lockern… Und auf die paar Sekunden kommt es wirklich nicht an… 😉
Danke Dir 🙂
Die Zweierstaffel kann ich nur empfehlen!