The Battle of Wounded Knee – WHEW 100

… und irgendwann kam er dann doch, der bei der Anmeldung im letzten Herbst noch so weit entfernt erscheinende 6. Mai 2017, der Tag, auf den ich ein halbes Jahr hintrainiert hatte, der Tag, an dem ich meine erste dreistellige Wegstrecke hinter mich bringen wollte und der zum ersten großen Meilenstein auf dem Weg zum 100-Meiler der Tortour de Ruhr 2018 werden sollte, jenem großen Ziel, dass ich im Frühling des letzten Jahres auf meine Agenda gesetzt hatte. Ich hatte den ganzen Winter und frühen Frühling hindurch hart und konsistent trainiert und ging mit gehörigem Respekt, aber auch gestärktem Selbstbewusstsein und einem Plan ins Tapering. Dem Ansatz von David Roche folgend, reduzierte ich lediglich die Distanz und nicht die Belastung, um meine Leistungsfähigkeit bis zum Renntag beizubehalten und gleichzeitig den Körper regenerieren zu lassen.

Pre-Race-Day (T-12:00:00)
So fuhr ich also am Freitagnachmittag zu meiner Freundin Caro, die mich während der gesamten Strecke mit dem Fahrrad begleiten würde. Neben dem psychologischen Effekt war ich dadurch von jeglicher Last befreit und konnte zudem – als auf dreistelligen Distanzen unerfahrener Läufer – alle nur erdenklichen Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel mitnehmen! Ein Fest für den vorausplanenden Ultraläufer (überflüssig zu erwähnen, dass ich das Meiste nicht gebraucht habe, aber wie sagt man so schön: “Haben ist besser, als brauchen!”)…
Den Nachmittag und Abend verbrachten wir schließlich damit, letzte Dinge zu klären, uns abschließend abzusprechen, das Fahrrad zu packen und bei einem netten Essen mit der Familie ein wenig auf andere Gedanken zu kommen.
Wie so oft vor solchen Veranstaltungen später, als mir lieb war, lagen wir dann schließlich im Bett. Da ich an diesem Tag aus einem 24-Stunden-Dienst mit eher mittelguter Nacht gekommen war, schlief ich ziemlich gut und lang für etwa sieben Stunden.

Raceday (T-2:00:00)
Um fünf klingelte schließlich der Wecker und wir erhoben uns – beide verwundert, dass wir uns um diese Zeit doch recht erholt fühlten – aus den Federn. Für ein entspanntes Frühstück hätten wir eine halbe Stunde eher aufstehen müssen und so blieben meine Bemühungen um die wichtigste Morgenübung des Ultraläufers ziemlich unbefriedigend. Wir schnallten das Fahrrad aufs Dach und fuhren los, einigermaßen im Zeitplan. In Wuppertal angekommen, fanden wir nach einigem Kurven die vom Veranstalter empfohlene Tiefgarage, die allerdings entgegen der Ankündigung noch nicht geöffnet war. Schnell bildete sich eine Autoschlange mit panisch dreinblickenden Menschen in Sportbekleidung – immerhin war die Garage dadurch schneller zu finden… Caro und ich beschlossen, dass ich mir schon mal das Fahrrad schnappen und den knappen Kilometer zum Mirker Bahnhof vorgehen und Caro das Auto parken und anschließend nachkommen würde, sobald die Garage geöffnet hatte. Im schlimmsten Fall würde sie nach dem Start einfach hinter mir herfahren und mich irgendwann einholen können. Im Start-/Zielbereich angekommen, stieß ich zu allererst auf den Rennleiter Guido und sprach ihn auf die Garagenproblematik an, die er aber just ein paar Sekunden zuvor geklärt hatte. Beruhigt holte ich unsere Startnummern und den Tracker im Startbüro ab, und traf draußen auch schon auf Caro, die mir half, die Startnummer an meinem Shirt zu befestigen. Es blieben noch etwa 20 Minuten bis zum Start, so dass ich mich zu den Leuten in der Dixie-Schlange gesellte, um die wachsende Unzufriedenheit in meinem Unterleib doch noch zum Schweigen zu bringen. Ich witzelte mit dem Umstehenden und jeder gab sich Mühe, den Ablauf so schnell wie möglich zu gestalten. Als ein junger Teilnehmer um die Ecke kam, die Schlange erblickte und mit einem “Näh!” wieder abdrehte, hatte ich die Lacher auf meiner Seite, als ich sagte: “Wenn er das hier schon nicht durchhält, hat er doch mental schon verloren!”

Ein Häufchen in Ehren: vor dem Start
Nachdem auch ich meine paar Minuten in einer der blauen Plastikkabinen gehabt hatte, begab ich mich in den Pulk der Starter, begrüßte den Lennetaler und suchte schließlich noch Thomas Müller vom Running-Podcast auf, mit dem ich im Vorfeld noch einen letzten langen Lauf über 54 Kilometer absolviert und den Streckenabschnittzwischen Hattingen und Schee erkundet hatte. Ich fand Thomas schließlich in Begleitung von Jan der als erster Läufer der Running-Podcast-Viererstaffel Thomas begleitete. Wir schnatterten aufgeregt durcheinander bis schließlich der Countdown zum Start begann und wir – zunächst in einer kleinen Schleife nach Osten – losliefen. Endlich war der Moment da!

Los geht’s! Vom Start bis nach Düssel (km 1-15)
Nachdem wir den Startbereich erneut durchquert hatten, durften auch die Radfahrer mit einsteigen und Caro zog schließlich neben mich. Nach ein paar Minuten aktivierte ich unsere Bluetooth-Box und verwandelte meine Fahrradbegleitung in ein Soundbike, was während des gesamten Streckenverlaufs ziemlich gut bei den anderen Läufern ankam – so ein akustischer Stimmungsaufheller ist eben genau das richtige für eine derartige Tagesreise!

Entsprechend gut gelaunt verließen wir schließlich die Nordbahntrasse, überquerten zahlreiche Straßen und auch einige Höhenmeter in Richtung Süden. Den ersten VP ließen wir links liegen und liefen stetig durch. Recht bald war mir klar: die alte Laufrichtung gegen den Uhrzeigersinn ist deutlich weniger angenehm, das unebene Gelände und die zahlreichen Straßenquerungen etc. stelle ich mir nach fast 100 Kilometern doch als eine zusätzliche Belastung vor. Schließlich kamen wir nach Düssel, einen sehr hübschen kleinen Ort, der zudem mit dem zweiten VP aufwartete, wo wir – einerseits, weil wir noch nicht recht eingespielt waren, andererseits, weil ich mein Thermoshirt ausziehen wollte, einige Minuten verplemperten. Dadurch liefen aber Jan und Thomas, die wir hinter uns gelassen hatten wieder auf uns auf so dass wir noch ein Stück zusammen liefen, Unsinn redeten und ein Selfie machten.

Immer weiter! Von Düssel nach Kettwig (km 15-40)
Immer brav trinkend und essend liefen wir nun in einem guten Tempo durch Velbert und Heiligenhaus in Richtung Kettwig. Caro auf dem Fahrrad dabeizuhaben, war ein großer Vorteil, denn ich schnappte mir immer nur einen Becher Schorle und ein wenig Essen, aß gehend und lief anschließend weiter, während Caro meine Flasche auffüllte und sich selbst nach eigenem Ermessen versorgte. Dadurch konnte ich mich ganz um mich selbst kümmern und musste nicht mit Isopulver und Trinkflaschen hantieren – ein großer und entscheidender Vorteil, wie sich später noch herausstellen sollte!

In Heiligenhaus, irgendwo jenseits der 32-Kilometer-Marke, als sich schlussendlich die erste kleine Patina auf das bislang noch makellose Laufgefühl gelegt hatte, hatte ich einen kurzen von Zweifel und Dunkelheit: “Die Beine sind nicht mehr hundert pro frisch! Es ist noch so weit! Ich muss was essen! Schaffen wir das?” Nach einigen Minuten merkte ich aber, dass ich nur genervt war, weil wir am etwas stärkeren Gefälle ein wenig zu schnell geworden waren und Caro etwas Mühe hatte, die langsame Geschwindigkeit zu halten, woraufhin ich ihr immer wieder hinterherrannte. Dadurch schaukelten wir uns immer wieder gegenseitig auf, was ich ständig ausgleichen musste. Nachdem ich gemerkt hatte, dass ich das Tempo steuern musste, lief es deutlich ruhiger und die dunkle Wolke über meinem Gemüt wich wieder dem eitlen Sonnenschein um uns herum.

Von Kettwig zur zornigen Ameise (km 40-60)
Ebenjener tauchte auch das Panorama des gleichnamigen Radwegs ins beste Licht. Auf der Talseite war der lange Viadukt kurz vor Kettwig zu sehen, den wir einige Minuten später schon überquerten und in den Ort einliefen. Wenig später, als wir uns der Ruhr näherten, erkannte ich die Ruhrbrücke, die auch Teil der Tortour-Strecke ist, wieder. Ab jetzt war der Lauf für sehr lange ein Heimspiel! Nur wenig später passierten wir den Kettwiger VP, wo Caro wieder zurückblieb, während ich schon mal weiterlief. Gut gelaunt und in recht fixem Tempo ging es weiter in Richtung Baldeneysee. Ich trank ein wenig mehr, denn die Sonne stand ziemlich hoch und in den Ruhrauen bot sich kaum Schatten. Wir überquerten die Werdener Ruhrbrücke und anderthalb Kilometer später kam die Staumauer des Baldeneysees in Sicht. Hier schlugen wir uns ins nächstbeste Gebüsch um Platz für weitere Getränke zu machen. Wenig später bemerkte ich ein leichtes Ziehen im Knie – ich vermutete, dass dies dem Umstand geschuldet war, dass ich meine Schuhe recht locker gebunden hatte. Ich hörte allerdings nicht auf Caro und wartete noch bis zum VP 50km, wo ich die Schuhe enger Band. Nach kurzem Aufenthalt am VP 50 ging es weiter bis zur Brücke am nördlichen See-Ende, die wir überquerten. Auf dem Weg entlang der Wuppertaler Straße kam der Lennetaler in Sicht. Ich erzählte von meinem Knieschmerz, der immer noch nicht besser geworden war, und er berichtete, er habe gerade erst eine ähnliche Krise überstanden. Ich trat etwas schneller an, weil mir das in einer ähnlichen Situation im Training auch schon mal geholfen hatte; die Wärme in den kaum beschatteten Heisinger Ruhauen bremste mich allerdings; dennoch lief ich kurz vor der Adenauerbrücke wieder deutlich unter sechs Minuten mit einem beherrschbaren Schmerzniveau. Nachdem wir allerdings auf der Brücke eine Ampelpause hatten einlegen müssen, ging gar nichts mehr, selbst das Gehen tat auf dem Abstieg von der Brücke weh. Ich ging ein Stück, versuchte, bis zum 200 Meter entfernten VP nochmal anzulaufen, aber es tat so weh, das gar nichts mehr ging. War es das jetzt, bei Kilometer 60? Ich legte eine längere Pause ein, trank ein paar Becher Cola und aß, während Caro und ich überlegten, was zu tun sei. Ich hatte diesen Schmerz, im Illiotibialband bereits bei zwei anderen Gelegenheiten gehabt und es immer geschafft, ihn wieder loszuwerden. Wir hatten 60% der Strecke in ziemlich genau sechseinhalb Stunden hinter uns gebracht, es war also noch alle Zeit der Welt. Der Schmerz war durch die Pause, das merkte ich, als ich wieder losging, recht deutlich. Aber ich wollte es versuchen. Wenigstens noch bis Hattingen. Hattingen, und dann weitersehen. Also lief ich an.

Wounded Knee: Von Steele nach Dahlhausen (km 60-68)
Zu sagen, dass es weh getan hat, wäre ein Understatement. Es hat saumäßig wehgetan. Es sah aus, als hätte man mir ein Holzbein angeschraubt, mit allen Nachteilen, die ein Holzbein bringt, und ohne den Vorteil, dass ein Holzbein nicht weh tut. Ich lief fluchend, aber ich lief – und ich lief weiterhin in einem guten Tempo. Während der zwei Kilometer bis nach Steele-Ost bekam ich den Schmerz langsam in den Griff und lief bei etwa 10% Schmerzniveau einigermaßen fix weiter. Es hätte mehr Spaß machen können, aber es lief, und Caro gab sich alle Mühe, mich abzulenken und bei Laune zu halten.
Schließlich erreichten wir mit der Schwimmbrücke in Dahlhausen den nächsten VP – und welches liebe Gesicht erblickte ich da neben dem VP? Michael alias Laufruhr! Das freute mich beträchtlich, denn Michael machte mir Mut und schoss noch ein schönes Foto von mir.

Von Dahlhausen nach Hattingen (km 68-74)
Wenig später ging es weiter, mit weniger Schmerz beim Anlaufen und gleichbleibenden 10% nach einigen Minuten. Es lief also, doch zu den Schmerzen gesellte sich erneut der Ruf der Natur. Ich war für alles gerüstet, setzte meine Hoffnungen allerdings darauf, dass ich beim VP in Hattingen, der sich auf dem Sportplatz des TuS Hattingen befand, mal kurz einen kleinen Pit Stop im dort befindlichen Vereinsheim würde einlegen können.
Auf dem Weg dorthin kam Caro mit Alex Koerfer ins Gespräch, der als Fahrradbegleitung für Torsten Merten dabei war. Er sagte Caro, ich sähe noch sehr stark aus und dass ich nicht aufgeben solle und feuerte mich an während er mich überholte, um nach Torsten zu sehen – genau das, was ich brauchte! So arbeitete ich mich bis zur Rampe auf die Isenbergstraße vor, die uns zum nächsten VP in Hattingen führte. Beim Laufen an der Steigung bemerkte ich, dass die zusätzliche Belastung auf der Trasse noch problematisch zu werden versprach. Nachdem wir an der Ampel hatten warten müssen und endlich die Straße überquert hatten, schmerzte es wieder so stark, dass ich kaum gehen konnte. Ich humpelte das letzte Stück über den Sportplatz und machte erneut einige Minuten Pause.

Ein Klo in Hattingen, der Höhepunkt in Schee (km 74-85)
Zu meiner Freude war die Toilette tatsächlich freigegeben, so dass ich Caro pausieren ließ und mich für einige Minuten zurückzog. Ich trat geistig einen Schritt zurück und machte eine Bestandsaufnahme: wir befanden uns kurz vor Kilometer 74, also trennten uns nicht mal 26 Kilometer vom Ziel, mit sechseinhalb Stunden verbleibender Zeit. Das würde ich auch auf einem Bein schaffen, also weiter. Ich kehrte zurück zu Caro, teilte ihr meinen Entschluss mit und wir gingen, wie fast alle Anderen um uns herum, noch ein ganzes Stück. Zurück auf der Trasse, vor dem Eingang des Schulenbergtunnels, begann ich wieder zu laufen. Wieder stellten sich heftige Schmerzen ein, es war kaum auszuhalten. Caro sprach mir gut zu, gab mir Atemanweisungen und sorgte dafür, dass ich mich langsam entspannte. Langsam ließ auch der Schmerz nach und blieb bei etwa 15-20% auch gut beherrschbar. Die erste Panik wich Erleichterung, noch vertieft durch einen Blick auf die Uhr: die Distanz zum Ziel schmolz wieder stetig dahin, die Pace blieb kaum und nur knapp über sechs. Wir überdachten unsere Strategie: da ich die zweite Hälfte bislang verhältnismäßig langsam gelaufen war, blieb mehr als genug Ausdauer; Laufen funktionierte zudem gut, solange ich nicht stehen blieb. ich sagte: “Wenn Stehenbleiben unser Problem ist, dann lassen wir es doch einfach!”
Spätestens jetzt zahlte sich aus, dass ich eine Radbegleitung hatte, die mich versorgen konnte, und spätestens jetzt gereichte es mir zum Vorteil, dass ich meine Maximaldistanz erst um einige Kilometer überschritten hatte und dadurch noch Reserven vorweisen konnte. Es blieb anstrengend und schmerzhaft, aber die Steigung als für mich schwerster Streckenanteil war mir bestens bekannt und fast zu Ende. Zudem sammelte ich – nunmehr im Gummibärchen-Betrieb – nun fortwährend Läufer ein. Darunter war auch Torsten, der mich wegen meines kleinen Kloaufenthalts in Hattingen wieder überholt und mittlerweile die Begleitung durch Alex eingebüßt hatte, weil dem bei seinem mittlerweile zweiten Platten die Fahrradschläuche ausgegangen waren. Caro blieb einige Minuten zurück, um mit ihrer Luftpumpe zu helfen, konnte aber nichts ausrichten. Das tat mir besonders für Torsten leid!
Einige Minuten später erreichten wir den höchsten Punkt kurz vor dem Bahnhof Schee, frenetisch bejubelt von einem Haufen Soundbike-Fahrer. Ich hob triumphierend die Arme. Am VP ließ ich Caro mit der Anweisung “nur noch Cola in die Flasche” zurück. Innerlich hoffte ich, dass sie zur Not Apfelschorle nehmen würde, als mir auffiel, dass ich keine Cola am VP gesehen hatte. Als sie dann schließlich wieder aufholte, hatte sie sich für Isozeug entschieden. Ich konnte es ja eigentlich nach fast sechs Litern nicht mehr sehen, aber na gut, irgendwas muss ja rein…

Es geht bergab!
Wir begannen den Abstieg durch den etwa einen Kilometer langen Scheer Tunnel. Anfangs noch leidend, kam auf der anderen Seite ein deutlich wilderer Tiger wieder ans Tageslicht: der Schmerz war kaum noch zu spüren, entschwand meinem Bewusstsein gar hin und wieder für einige Momente, und auch die Pace wurde wieder deutlich besser. Ich stopfte mir eine große Handvoll Gummibärchen in den Mund, drehte die Musik voll auf und wir nahmen als rasendes Partygespann noch etwas mehr Fahrt auf; mitsingend, bei jedem Kilometer jubelnd und an einigen recht konsterniert dreinschauenden Läufern mit aufheiternden Kommentaren vorbeiziehend. Die nächsten drei Kilometer liefen in 5:30er Pace einfach wie geschmiert! In der Ebene wurde es dann wieder etwas mühsamer, doch die Stimmung blieb grundsätzlich gut. Man konnte das Ziel förmlich schon riechen! Wir ließen den letzten Straßenabschnitt an der Luhnsstraße hinter uns und überquerten wenig später die 95-Kilometer-Marke – fast geschafft! Unter gelegentlichem Beifall der Passanten auf der Trasse kämpfte ich mich Schritt für Schritt in Richtung Ziel. Die letzten fünf sind immer die schwersten und längsten Kilometer, zudem nun auch der letzten Schatten ausblieb und mich nochmal ordentlich ins Schwitzen brachte. Ich hielt mich mit Rechentricks wie “okay, nur noch fünf, das heißt nur noch vier bis es nur noch einer ist, der geht ja immer und zählt eigentlich gar nicht!”
Als es “nur noch zweieinhalb” bis “nur noch einer” waren, kam uns ein kamerabewährter Radfahrer mit wohlbekanntem Gesicht entgegen: es war Jan, der beschlossen hatte, Thomas entgegenzufahren und ihn das letzte Stück zu begleiten, er drehte bei und fragte nach dem Befinden. Ich erzählte kurz von meinem Knie und dass es jetzt aber wieder laufe. Er machte noch ein paar tolle Fotos von uns, betonte, wie stark ich aussähe und machte sich dann mit den Worten “nur noch zwei Tunnel!” auf den Weg zu Thomas. Die Begegnung pushte mich nochmal, denn es wurde nun richtig zäh; keine Faser meines Körpers war mehr an einer weiteren Fortsetzung des Laufs interessiert; die Wortführer schien sogar bereits Ausreiseanträge zu formulieren. Ich kramte noch einmal einen Powersong hervor, der mir eine hohe Schrittfrequenz vorgab und mich ordentlich anstachelte. Dass wir noch einige gehende und langsam laufende Läufer einsammelten, gab mir zusätzliche Kraft.

Der letzte Kilometer
Irgendwann schließlich, nach einer sich scheinbar ins schier ins Unendliche ziehenden Zeit kam sie in Sicht, die letzte zweistellige Kilometermarkierung. Kurz danach sprang meine Playlist auf “Faith of the Heart”, einen Song von Rod Stewart, in einer Coverversion von Russel Williams.

It’s been a long road,
Getting from there to here.
It’s been a long time,
but my time is finally here.

And I can feel a change
in the wind right now.
Nothing’s in my way.
And they’re not gonna
hold me down no more.
No they’re not gonna hold me down.

‘Cause I’ve got faith of the heart.
I’m going where my heart
will take me.
I’ve got faith to believe.
I can do anything.
I’ve got strength of the soul.
And no one’s going to bend
or break me.
I can reach any star.
I’ve got faith,
I’ve got faith,
Faith of the heart.

Ein halbes Jahr. So viele Stunden und Kilometer, gelaufen bei Sturm, Regen und Minusgraden. So viel gelitten und genossen, verzichtet und gewonnen! So viele tausend Schritte, um diese 107000 hinter mich bringen zu können! Für einen Moment griff ich nach Caros Hand. Caro, die nicht nur während der gesamten Trainingsphase meine größte Unterstützerin war, mich ermutigt und angefeuert hat, sondern auch in den dunkelsten, schmerzerfülltesten Stunden dieser dreistelligen Distanz stets an meiner Seite gewesen ist, mir Mut gemacht und mich angetrieben hat! Ohne sie wäre dieses Ergebnis so nicht möglich gewesen – um so mehr hat es mich gefreut, dass auch ihr nach unserem Zieleinlauf eine Medaille überreicht worden ist! Was ist ein Läufer ohne seine Crew?

“Free at last!”
Gänsehaut! Yes! Ich zog an. Versenk das Ding! Nach der nächsten Kurve kam der Mirker Bahnhof in Sicht, vor mir lief Andreas Häußler. “Den holen wir uns noch!” sagte ich zu Caro und gab Gas. Die letzten zehn Sekunden Vorsprung konnte ich ihm aber nicht mehr nehmen und so genoss ich den aufbrandenden Jubel auf den letzten 50 Metern, klatschte unzählige Hände ab, darunter auch die von Renndirektor Guido Gallenkamp und Moderator Oli Witzke, und hechtete mit einem Sprung über die Ziellinie.

Geschafft! Caro und ich fielen uns in die Arme. Ich sagte ebenso triumphierend, wie es sich anfühlte: “Stell Dir nur vor, ich hätte aufgegeben!” Es hatte sich so gelohnt, jeder Schritt unter Schmerzen war es wert gewesen! Die Uhr zeigte 11:22 Stunden an; angesichts der Knieprobleme eine tolle Zeit für den ersten Hunderter!

Bier und warten auf Thomas
Langsam gingen wir in den Partybereich gegenüber dem Bahnhofsgebäude; Caro bugsierte mich auf eine Bank, die in der Nähe der Strecke stand; ich wollte unbedingt noch Thomas’ Zieleinlauf sehen! Während Caro mir mein wohlverdientes Finisherbier holte, checkte ich über die Tracker-App, ob unser recht enges Zeitkonto es zulassen würde, noch auf ihn zu warten. Er war noch etwa acht Kilometer vom Ziel entfernt, also würde es eng werden. Nachdem wir eine Weile dort im eitlen Sonnenschein gesessen und unseren Triumph genossen hatten, ging Caro, die die letzten elfeinhalb Stunden gesessen hatte, schon mal in Richtung Tiefgarage, um das Auto zu holen. Ich trottete derweil nach einigen Minuten mit dem Rad ins Startbüro, gab den Tracker zurück und bedankte mich beim Team. Auf dem Weg zurück begegnete mir ein anderer Läufer, der erschöpft und mit kleinen Schritten auf mich zukam und ein wenig weggetreten, aber selig dreinschaute. Wir schauten uns gegenseitig an und mussten beide Lachen, denn ich sah wohl keinen Deut anders aus.
Ich platzierte mich mit einem Stuhl direkt neben die Strecke und ließ das Spektakel auf mich wirken, jeden einlaufenden Finisher beklatschend. Oli erblickte mich und nutzte die Tatsache, dass ich nicht weglaufen konnte und wollte, für ein kleines Interview am Streckenrand. Das fand ich nett, wenngleich ich in diesem Moment auch vermutlich nicht sonderlich viel Sinnvolles von mir geben konnte.

Ein erneuter Blick auf die App ließ vermuten, dass Thomas nun nicht mehr weit weg sein konnte. Tatsächlich erschien sein knallorangenes Laufshirt wenige Augenblicke später in meinem Sichtfeld. Sein Gesichtsausdruck war voller Ungläubigkeit. “Habe ich es wirklich jetzt geschafft?” schien er sagen zu wollen, doch dann fiel alles von ihm ab und wich größter Freude. Wir bekamen Blickkontakt und ich schrie “ich hab’s Dir gesagt, dass wir uns im Ziel sehen!” Er zog vorbei, überquerte die Ziellinie und ich stellte mich in die Schlange der Gratulanten, um ihm um den Hals zu fallen. Thomas’ Training war nicht ohne Probleme abgelaufen, er hatte schlussendlich sogar noch ein wenig um seine Teilnahme bangen müssen; umso stolzer war ich, dass er sich durchgebissen hatte!

Wir wechselten noch einige Worte bis Caro kam, die das Auto mittlerweile herangeholt hatte. Wir machten uns auf den Weg nach Hause, wo eine große Pizza, eine Dusche, die Couch und das Bett auf uns wartete.

Bewertung
Angesichts der massiven Probleme, mit denen ich mich in der zweiten Hälfte des Laufs konfrontiert war, bin ich sehr glücklich mit dem Ergebnis. Meine durchaus nicht unrealistische Hoffnung, auch noch die Elf-Stunden-Marke zu unterbieten, musste ich natürlich leider fahren lassen, aber dazu hat man B- und C-Ziele – und für den ersten Hunderter ist meine Zeit wirklich schon ziemlich gut! Es hat sich voll ausgezahlt, dass ich mir eine lange Vorbereitungszeit genommen, hohe Umfänge gelaufen bin und mehrere Trainingsläufe über 70 Kilometer hinter mich gebracht habe. Zuallererst hat mir dieser Umstand am Ende ermöglicht, einfach nicht mehr anzuhalten, da dies zu schmerzhaft gewesen wäre und der Schmerz bei kontinuierlichem Tempo gut beherrschbar war; andererseits konnte ich, obwohl ich angeschlagen und nicht ganz so schnell war, wie ich vielleicht sonst gekonnt hätte, auf den letzten etwa 30 Kilometern stark und kontinuierlich weiterlaufen und bergab Richtung Wuppertal noch ein paar Kilometer Kniegas geben. Das zeigt sich auch bei den Strava-Flybys, denn ich habe den beiden Thomassen, nachdem ich vom Hattinger VP mit etwa 15 Minuten Vorsprung gestartet war, zwischen 45 (Thomas M.) und 75 Minuten (Thomas P.) abgenommen. Sicherlich muss man mit einberechnen, dass ich durch Caro keine Nachfüllpausen machen und wieder in den Laufschritt hereinfinden musste, aber es bleibt immer noch eine Menge Zeit übrig. Hatte ich nach einem kleinen Einbruch bei meinem letzten langen Trainingslauf noch ein wenig Respekt vor dem letzten Viertel der 100, kann ich stolz auf meine Leistung sein – ich denke aber auch, dass leichte Bremsung, die die Knieschmerzen verursacht haben, durchaus zu dieser großen Kontinuität bis zum Ende beigetragen haben.

Essen, Trinken, Tralalala!
Sehr zufrieden bin ich auch mit der Flüssigkeitszufuhr. Im Training habe ich stets Probleme damit gehabt, weil ich zu sehr damit gehaushaltet habe, um nicht zu oft nachkaufen zu müssen. Generell habe ich während der ersten zwei Stunden meiner Trainingsläufe relativ wenig getrunken, was bei 30km kein großes Problem darstellt, aber bei 70, 80, 100km wenigstens an warmen Tagen zu einem nicht mehr auszugleichenden Flüssigkeitsverlust führen kann: einen 75er-Lauf hatte ich tatsächlich bei Kilometer 54 abbrechen müssen, weil ich genau diesen Fehler bei fast 25 Grad gemacht hatte. Mit moderater Salzzufuhr war die Flüssigkeitsversorgung für mich jedenfalls im Optimum, wobei wir glücklicherweise lediglich im Bereich der Ruhr mit relativ wenig Schatten hatten auskommen müssen.

Was die Ernährung angeht: das hätte insgesamt etwas besser laufen können. Dadurch, dass es schon relativ warm war, habe ich in der zweiten Hälfte nicht mehr soviel Lust auf Essen gehabt. Wenigstens habe ich es geschafft, immer weiter zu essen. Ohne die Toilette in Hattingen hätte ich aber sicher irgendwann in die Büsche gemusst. Jedenfalls war ich auf den letzten 30 Kilometern deutlich erleichtert; danach auf Gummibärenbetrieb umzustellen, war definitiv eine gute Entscheidung; der Magen hat – sicher auch wegen des vergleichsweise ruhigen Tempos, jedenfalls keinen nennenswerten Probleme mehr gemacht. Mit der Cola möglichst lange zu warten, ist auch stets empfehlenswert, denn als ich das Isozeugs auf den letzten Kilometern nicht mehr sehen konnte, hat der Wechsel zur Brause gleich doppelt gut getan.
Dadurch, dass Caro mich mit dem Rad begleitet hat, konnte ich völlig unbeschwert laufen und eine recht aggressive VP-Strategie fahren, weil sie das Auffüllen übernommen hat. Das hat mir sicherlich einige Minuten verschafft und mir vor allem das Leben leichter gemacht. Alleine würde ich mir mein Isozeug vorportionieren, um möglichst wenig Zeit zu verlieren denn selbst eine Minute Verlust pro VP summiert sich bei einem Ultra…

Datenanalyse
Die Messdaten (Strava/Runalyze) bestätigen, was Andere bereits auf der Strecke gesagt haben: ich war konsistent und stark unterwegs. Die Pace ab Kilometer 74 ist nur leicht langsamer, als der Durchschnitt und durch die kontinuierliche Steigung erklärbar. Auch die Herzfrequenz blieb stets auf einem einigermaßen kontinuierlichen Niveau, genau wie die Schrittfrequenz, die zum Ende hin sogar noch etwas angestiegen ist.

Mit meiner Zeit von 11:22 Stunden bin ich als 49. von 152 Gesamtfinishern ins Ziel gelaufen, als 43. von 125 Männern und 7. von 16 Männernmeiner Altersklasse. Ein Ergebnis, denke ich, das sich sehen lassen kann!

Ausblick
Im Augenblick, sechs Tage nach dem Lauf, bin ich – bis auf mein leicht entzündetes Knie – eigentlich wieder auf dem Damm. Ich muss abwarten, ob ich wieder rechtzeitig ins Training einsteigen kann und wenigstens einen halben Dienst loswerden, doch sofern ich diese Probleme lösen kann, plane ich, beim Kölnpfad am 1. Juli die 110km-Distanz zu laufen. Bock hätte ich!

7 Antworten auf „The Battle of Wounded Knee – WHEW 100“

  1. Dank deines Berichts bin ich die Strecke nochmal mitgelaufen. Schmerzen ab km 60 und Rettung durch eine Frau – kommt mir alles sehr bekannt vor.
    Ich hatte auch Freude an deinen gelungenen Formulierungen. Glückwunsch dazu und zum Filmsh des ersten 100ers!

  2. Toller Bericht! Ich drücke dir die Daumen für deine Laufziele! Meine längste Strecke waren bisher 72km. Die hab ich schon zweimal gelaufen und der zweite Versuch war wesentlich anstrengender als der erste, vermutlich aber weil ich beimzweiten Lauf nicht so viel Begleitung hatte wie beim ersten.
    Ich wünsch dir auf jeden maximale läuferische Erfolge!
    Viele Grüße
    Andi

    1. Ich danke Dir!
      Ich denke, eine gute Begleitung kann schon einen entscheidenden Unterschied machen. Ein Fahhradbegleiter oder ein Pacer sind definitiv eine gute Sache!
      Willst Du es streckenmäßig noch weiter treiben?
      LG,
      Christian

  3. Was für ein schöner Bericht. 100 Kilometer am Stück zu laufen, liegen für mich in weiter Ferne, trotzdem lese ich super gern über solche Leistungen.
    Ich hoffe du hast dich bis jetzt gut erholt und dein Knie macht dir nicht mehr allzu lange Probleme:-)

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