Nur noch 16 Stunden weitermachen! – der Mauerweglauf 2019

Als ich ins Ziel lief, starrten meine Klamotten vor Salz. Salz, das ich in den fast 24 Stunden meiner Reise um das ehemalige Westberlin ausgeschwitzt hatte. Es war zwischenzeitlich 27 Grad warm gewesen und ich hatte in der Hitze gelitten. Allerdings war ich da schon so weggetreten und mit mir selbst beschäftigt, dass ich das kaum mitbekam. Ich litt einfach nur noch alles weg, was so an Unbill den Weg entlang kam. Müdigkeit, Verzweiflung, weil ich bei Kilometer 70 eigentlich schon zum Aufgeben bereit war? Leide ich weg. Die Hitze und kraftzehrende Überwindung bei jedem Schritt? Klar doch, ich mache einfach noch ein bisschen weiter. Endlose Geradeaus-Strecken im Süden der Stadt, schon in der Dunkelheit, mit dem Bewusstsein, dass es auch jetzt noch elendig weit war? Ja gut. Nur noch diese paar Schritte. Am Ende waren die letzten Kilometer durch die Straßen von Berlin-Mitte wie der Gang durch ein schwarzes, endloses Labyrinth ohn’ Wiederkehr. Und doch war schließlich, im Morgengrauen des Sonntags, der so fern erscheinende Moment gekommen, an dem es wirklich nur noch ein paar Schritte waren. Ich war ich innerlich genauso verbraucht und gerupft, wie ich aussah. Alles war weg, alles leergefegt, die letzte Energie aufgebraucht. Und dennoch brachte mich dieses Untensein wieder ganz nach oben.

Es ist schwer zu beschreiben, was mit einem passiert, wenn man einen wirklichen langen Ultra läuft und 24 oder mehr Stunden immer in Richtung Ziel läuft, wandert, trottet, stolpert oder auch mal kriecht. Wenn man wirklich nicht mehr weiterweiß und es trotzdem einfach macht. Ich meine, es gibt diese Läufe, die läuft man einfach, es tut dann am Ende auch gehörig weh, aber unterm Strich ist alles gar nicht so schlimm. Oder man geht an den Start eines 100Milers, etwas untertrainiert, aber mit gutem Willen – und wird richtig auf die Probe gestellt. Infrage. Und zwar bis auf die letzte Zelle. Dem hält man nur stand, wenn man sich selbst mit so viel Willen anfüllt, dass selbst in genau dieser letzten Zelle kein Platz mehr für irgendetwas Anderes ist.

Aber zurück zum Anfang:

Ich hatte gut geschlafen, als ich nach einem kleinen, ruhigen Frühstück gemeinsam mit Marina in den Shuttlebus stieg. Es war Samstag, 17 August 2019. Im Frühstücksraum des H4-Hotels waren beim Frühstück nur Ultraläufer zu sehen gewesen. Das war einfach zu erklären: kein anderer Hotelgast wäre gegen vier Uhr morgens schon freiwillig auf den Beinen gewesen. “Noch” vielleicht, aber nicht “schon”. Seit ich am Donnerstag hier eingescheckt hatte, hatte es mir vor diesem Moment gegraut. Doch jetzt war ich einigermaßen fit, hatte schon einen Haufen gemacht und versuchte noch, die letzte Müdigkeit aus meinen Knochen zu vertreiben. Der Bus war so voll, dass wir auf der Fahrt stehen mussten. Zum Glück war die Strecke sehr kurz, so dass das riesige Gefährt uns bereits einige Minuten später vor der Tür des Start-/Zielbereichs ausspuckte, nur um direkt umzudrehen und eine weitere Fuhre Bekloppter herzukutschen. In meinen Knochen hatte sich diese verdammte Müdigkeit festgesetzt, die ich so hasste. Es war noch etwas Schlafdefizit der letzten Tage übrig. Aber das würde sicher weggehen, wenn wir erstmal unterwegs wären, sagte ich mir.

Wir gaben unsere Dropbags an der Sammelstelle ab und shuffelten noch eine halbe Stunde in den Gängen des Gebäudes herum. Marina hatte die geniale Idee gehabt, zwei Stühle aus der Umkleide in den Gang zu schleifen. So saßen wir jetzt da und amüsierten uns über die Blicke der passierenden Läufer, die sich allesamt bei unserem Anblick dachten “Verdammt!Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen?” Irgendwann war es dann doch Zeit, sich in den Startblock zu stellen. Ich war müde und irgendwie zog die Zeit bis zum Startschuss an mir vorbei und ich fand mich laufend auf der Tartanbahn wieder, dann schon auf dem Jahnsport-Gelände und schließlich in den Straßen rund um das Gelände. Die nächsten 70 Kilometer waren surreal, weil ich müde war und eine umgekehrte, Version der Staffel vom Vorjahr, nur mit Tageslicht. Fest steht: wir (das heißt ich, nicht Marina) liefen zu schnell. Ich wollte Marina nicht von der Seite weichen und hielt bei ihr mit. Wir verloren zwar etwas Zeit, aber bis Sacrow hielten wir eine Durchschnittspace von 6:23 Min/km. Wir unterhielten uns locker, doch bis nach Sacrow ließ mich der Gedanke nicht los, dass mir die Beine wehtaten, die Müdigkeit nicht wegging und der Lauf gerade einmal angefangen hatte. Ab Kilometer 55 kam zudem eine leichte Überlkeit bei den VP dazu. Meine Zuversicht war nicht sehr groß, weil ich um meinen Trainingsstand wusste – Zweifel und Gebrechen, die Apokalyptischen Reiter des Ultraläufers.

Auf dem Weg nach Sacrow

Low point Sacrow

Auf der Straße nach Sacrow konnte ich das Tempo knapp über sechs nur unter Schmerzen halten. Ich war fest entschlossen, hier aufzugeben. Was eine Niederlage! Ich quälte mich die Dorfstraße entlang und lief auf das Gelände des Schlosses. Hier fiel ich ins Gehen, zückte wie im Reflex mein Telefon und rief Schluppe an. Er war mein Telefonjoker und ich hatte den Drang, mit ihm über mein Aufgeben zu sprechen. Wir telefonierten etwa zehn Minuten miteinander, während ich total fertig, schon ohne Rucksack, auf einer Biergartengarnitur saß. Schluppe nahm mir das Versprechen ab, noch wenigstens bis zur Glienicker Brücke zu laufen. Uns beiden war nicht klar, dass es noch 20 Kilometer bis dahin waren. Marina stand neben mir auf und sagte, sie wolle schon mal vorlaufen. Schluppe fand das gut und bestärkte, ich müsse jetzt mein eigenes Tempo finden, es seien gerade einmal siebeneinhalb Stunden vergangen und ich hätte noch jede Menge Zeit, um den 30-Stunden-Cutoff oder gar die Sub-24 zu schaffen. Das wollte ich nicht unbedingt hören, aber es stimmte. Ich dankte Schluppe und füllte widerwillig meinen Rucksack auf. Ich haderte mit mir selbst, trank noch etwas und ging am VP vorbei wieder auf die Strecke.

Voller Salz und eigentlich bereits, aufzugeben. Man sieht mir die Verzweiflung gar nicht an.

Die Stimmung war auf dem Nullpunkt und ich wanderte durch den Park. Nach einer Weile überholte mich ein langsam laufender Mitstreiter. Dann ein zweiter und wenig später auch ein dritter. “Was soll’s”, dachte ich mir, “dann kann ich das ja auch mal versuchen”. Und trabte los. Es tat weh, aber es ging irgendwie. So lief ich durch den restlichen Park in Königswald, wechselte zwischen Gehen und Laufen und kam ganz gut durch. Ich überholte jetzt sogar wieder andere Läufer. Dennoch fühlte es sich nicht wirklich berauschend an, als ich am VP in Krampnitz ankam. Sogar äußerst unberauschend. Aber ich lief wieder los.

Blick auf den Krampnizsee

Nach der Glienicker Brücke würde ich an einem S-Bahnhof vorbeikommen, da könnte ich kurz am VP Bescheid geben und dann direkt bis zum Alex zurückfahren. Ich war überzeugt, dass ich aufgeben würde. So lief ich einige Minuten, während in mir der Widerwille aufstieg. Ich hatte bisher noch nie aufgegeben. Tiger geben nicht auf. Ich stellte mir vor, wie ich über die Ziellinie laufen und weinend zusammenbrechen würde, voller Unglauben über meine Leistung. Das trieb mir die Tränen in die Augen. Willst Du Dir das verbauen? Willst Du wirklich aufgeben? Ganz schwach begann dieser Widerwille in mir zu wirken. Als ich in der Meierei ankam (Kilometer 82,5), hatte ich mich die letzten Kilometer durchkämpfen müssen. Ich würde sicher bald aufgeben müsen, vielleicht sogar schon hier. Es war jetzt 27 Grad warm und nicht nur ich litt. Gemeinsam mit anderen erschöpften Gestalten saß ich zwanzig Minuten auf einer Bank im VP und litt vor mich hin, zwang mich, zu essen und zu trinken und füllte meine Flasche auf. Nach zwanzig Minuten Pause setze ich mich widerwillig wieder in Bewegung. Wieder lief ich durch einen Park. Es war warm und ich war fertig. Noch 78 Kilometer! Es war noch so weit! Es lag noch so viel Leid vor mir. Aber ich wollte wieder. Ich wollte ankommen.

Glienicker Brücke

Wieder begann ich zu laufen. Jeder der Menschen, dem wir Läufer begegneten, feuerte uns an. Vor mir kam die Glienicker Brücke in Sicht, die wir unterqueren und dann auf der rechten Straßenseite betreten mussten. Ich ging wieder eine Weile und machte ein Foto.

Die Gienicker Brücke. Still-Leben mit Touristengruppe.

Auf der anderen Straßenseite war eine spanische Touristengruppe unterwegs. Als ich am Ende der Brücke ankam, überquerte sie die Straße. Wenn ich nicht mitten in diese Gruppe geraten wollte, musste ich laufen. Also lief ich. Ein Rennradfahrer überholte mich einige Augenblicke später und zeigte mir ein “Daumen hoch”. Ich meine, wenn selbst die Rennradfahrer auf Deiner Seite sind…
Wir bogen von der Hauptstraße ab und liefen durch Klein-Glienicke, einen hübschen Ortsteil mit einer kleinen Bogenbrücke, die wir unter anderen Umständen sicher alle nett gefunden hätten; jetzt aber verursachte die Steigung vor allem Schmerzen. Wir durchquerten Babelsberg, das eine sehr exklusive Wohnadresse zu sein scheint. Die 20 Kilometer, die ich Schluppe noch zu laufen versprochen hatte, waren fast geschafft, der nächste VP nur noch einige hundert Meter entfernt. Ich kam um eine Straßenecke und kurz vor dem VP war der S-Bahnhof Griebnitzsee zu sehen. Ich verschwendete keinen Gedanken an eine Heimfahrt zum Hotel. Das würde schon irgendwie gehen. Wenn ich es bis hierher geschafft hatte, würde ich es auch noch zu Ende bringen. Ich hatte zwar drei Stunden von Sacrow hierher gebraucht, aber ich hatte noch 13 Stunden für die restlichen 70 Kilometer unter 24, oder 19 für den 30-Stunden-Cutoff.
Am VP Griebnitzsee machte ich eine Weile Pause, füllte alle Tanks auf und machte mich nach einer Weile wieder auf den Weg. Am Ausgang zur Strecke lief ich Matthias über den Weg, der nur kurz Halt machen wollte. Nach ein paar Minuten holte er mich wieder ein und wir liefen in sehr gemächlichem Tempo weiter. Hier ging es für einige Kilometer schnurgeradeaus durch den Düppeler Forst in RIchtung Kleinmachnow. Ich merkte bald, dass mir das ganz langsame Tempo nicht so gut tat und setzte mich wieder von Matthias und seinem Fahrradbegleiter ab. Ich überquerte die A115. Vo der Brücke hatte man einen guten Blick auf den ehemaligen Checkpoint Bravo. Es war schwer vorstellbar, dass hier noch vor dreißig Jahren eine schwer bewachte Grenze zwischen zwei deutschen Staaten verlaufen sein soll. Wenig später erreichte ich den VP 16. Jetzt würde es in Richtung Teltow und Schönefeld gehen, immer im Zickzack entlang der alten Grenze. Inzwischen hatte ich ein gutes Tempo gefunden und konnte einigermaßen gut laufen. So kämpfte ich mich die nächsten Kilometer bis zum WP 3 durch. Die TUrnhalle, die als VP diente, lag nicht direkt an der Strecke, weswegen wir in einer Schleife darauf zu laufen mussten. Auf der einen Straßenseite liefen die Läufer, die auf dem Hinweg waren, ihnen gegenüber diejenigen, die schon fertig mit Ausruhen und wieder auf dem Weg in Richtung Ziel waren. Auch wenn die Strecke dadurch nicht länger wurde, weil dieser “Umweg” ja einkalkuliert war, war es irgendwie schwer auszuhalten, dass wir einen Streckenabschnitt doppelt würden laufen müssen. So betrat ich die Turnhalle und machte eine Pause.

Nur noch 60! Zehn Stunden und 44 Minuten.

Ich traf Heiko, der sehr angegriffen schien und mit sich zu kämpfen hatte. Auch Stefan begegnete ich hier und wir unterhielten uns kurz, bevor ich einen Stopp in der Keramikabteilung machte. Erleichtert ging ich schließlich wieder auf die Strecke. An der Abbiegung auf die lange Gerade zurück zum Teltowkanal kam mir Christoph zum ersten Mal entgegen. Wir wechselten ein paar Worte und machten uns wieder auf unseren jeweiligen Weg. Es ging nun an der sehr ländlichen Südgrenze Berlins entlang. Durch den ehemaligen Todesstreifen war es hier ohnehin sehr grün, so dass die Läufer immer von den bewohnten Gebieten am Streckenrand abgeschirmt waren. Gefühlt liefen wir jetzt stundenlang am Waldrand entlang. Bei Kilometer 111 überquerten wir die stark befahrene Marienfelder Allee. Ich lief über die erste Fahrspur, doch auf der Mittelinsel wurde die Ampel vor meiner Nase rot. Auf der anderen Seite stand ein Streckenposten und ich bremste scharf ab. Er meinte, er hätte mich auch noch rübergelassen, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Sich durch alles durchquälen und dann disqualifiziert werden… nö danke. So wechselten wir noch ein paar Worte über den vorbeifließenden Verkehr hinweg, bis es grün wurde.
Es war inzwischen dunkel geworden und wir stapften im Schein unserer Lampen durch den halb künstlichen Wald. Nach dem VP “Ninas Eltern” machten wir einen kleinen Schlenker durch Lichtenrade, bis wir wieder auf unsere Trasse gleitet wurden. Hier schlugen wir wieder den Weg Richtung Norden ein, doch nach wie vor ging es schnurgeradeaus durch das Grün des ehemaligen Grenzstreifens. Nur noch 40 Kilometer! Ich dachte zurück daran, wie ich in Sacrow nicht mehr daran geglaubt hatte, noch weiterlaufen zu können. Gleichzeitig war ich ein wenig schockiert, dass ich tatsächlich fast neun Stunden für 50 Kilometer gebraucht hatte, aber ich hatte noch mehr als genug Zeit. Es würde noch sehr wehtun und eine ganze Weile dauern, aber ich würde ankommen! Kurz hinter dem VP Buckow waren schon wieder fünf Kilometer geschafft. Das Tempo war durchzuhalten, aber die Kilometer schienen wie in Zeitlupe an mir vorbeizuziehen. Nach einer halben Ewigkeit des Laufens zeigte mir der Blick auf die Uhr, dass ich gerade einmal 200 Meter geschafft hatte. Es war zermürbend und mir ging die Kraft aus. Am VP in Rudow (130,65) legte ich noch einmal ein paar Minuten Pause ein. Nur noch 30 Kilometer! Es war zu schaffen! Gestärkt ging ich gemeinsam mit Christoph, dem ich wieder begegnet war, auf die Strecke. Er blieb zunächst zurück und ich lief das letzte Stück bi zum Teltowkanal in einer verteilten Gruppe mit einigen anderen Läufern. So langsam schwand meine Energie und ich brauchte fast eine Stunde für die fünf Kilometer am Kanal entlang. Die Strecke zwischen dem Kanal und der Autobahn, fast schnurgerade und in der Dunkelheit doppelt reizlos, sog stark an meiner mentalen Batterie. Immer wieder überholten Christoph und ich uns ab jetzt gegenseitig und wir wechselten zwischendurch ein paar Worte. Das gab Kraft. Wir folgten dem Verbindungskanal noch eine Weile, bis wir ins Parkband in Richtung Friedrichshain abbogen.

Aus der Stille ins pralle Leben: ab durch (die) Mitte!

Alt-Treptow lag still und verlassen da, und auch in den Parks um den Landwehrkanal war Ruhe eingekehrt. Als ich die Schlesische Brücke überquerte, explodierte das Leben vor mir: Die Gegend um die Oberbaumbrücke war in Partystimmung und Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern lärmten um uns herum, wichen uns aus, während wir wie geblendete Tiere durch die Menge liefen. Es war zwar halb vier Uhr morgens, aber hier schien es gerade erst Abend zu sein. Es war unwirklich, besonders für uns, die stundenlang durch Stille und Dunkelheit gelaufen waren. In den Arkaden der Oberbaumbrücke stank es nach Urin und was-weiß-ich-noch. Ich wollte hier einfach nur weg und meine Ruhe haben. So lief ich nochmal ein paar “schnelle Kilometer”. Schon wenig später kam ich am VP an der East Side Gallery an. Der Rennarzt war hier und ich wechselte ein paar Worte. Leider war die Cola alle. So zog ich wieder mit Iso-Zeug weiter.

Nur noch ins Ziel!

Der restliche Weg bis ins Ziel war ein Gewirr von Straßen und Abbiegungen. Ich lief und marschierte wie in Trance immer den Pfeilen nach, wie die ganze Zeit in einer lockeren und verteilten Gruppe von Läufern. Nur noch die Höhepunkte stechen in der Erinnerung heraus. An der britischen Botschaft riefen uns die zur Bewachung abgestellten Polizisten ein paar aufmunternde Worte zu, es seien nur noch sieben Kilometer. Nur wenig später öffnete sich die Straßenschlucht zu unserer Linken zum Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor. Nur wenig später hatten wir die Marschallbrücke überquert und liefen am Abgeordnetenhaus entlang mit gutem Blick auf das Reichstagsgebäude. Ein Blick auf meine Uhr zeigte nur ein mattes Display. Anscheinend ging nicht nur mir der Saft aus. Mit meiner Powerbank verbunden, startete due Uhr neu, aber sie brauchte fast eine halbe Stunde, um die 150km-Aktivität wieder zu laden. Nachdem wir den Reichstag hinter uns gelassen hatten, ging es wieder ins schwarze Leiden. Links von mir tauchte das Wirtschaftsministerium auf, das für seinen Tag der offenen Tür geschmückt war. Wenig später bogen wir in die Kieler Straße ab, wo der VP an der Gedenkstätte für Günter Litfin aufgebaut war. Es war kurz nach fünf. Von hier waren es noch etwa vier Kilometer bis ins Ziel. Ich würde mich beeilen müssen, denn mit Gehen allein würde ich es nicht vor sechs Uhr schaffen. Die Crew des VP bestätigte mir das: “Wenn Du es unter 24 Stunden schaffen willst, musst Du laufen!” So lief ich also los, lief, nur getrieben von meinem Ziel, erreichte Paces von etwa 6:30. Das war reiner Wille. Ich lief die schier endlose Mauer des Parks am Nordbahnof entlang, wo ich ein letztes Mal Christoph überholte. “Ich schaffe das!” rief ich ihm zu und er feuerte mich an. Nur noch ein Kilometer! Jetzt musste ich nur noch die Steigung an der Bernauer Straße überwinden, dann war es so gut wie geschafft. Wieder lief ich auf andere Läufer auf. Die zahlreichen Ampeln hier machten uns zu schaffen. Mein rechtes Knie schmerzte merklich, das Iliotibialband war gereizt. Das würde eine Pause bedeuten, doch das war mir jetzt egal. Alles was zählte, war anzukommen. Der letzte Kilometer zog sich endlos hin. Und doch kam irgendwann die Abbiegung auf das Jahnsportgelände. Es war geschafft und noch etwa zwanzig Minuten Zeit! Zum ersten Mal seit beginn des Laufes genoss ich, was ich tat. Wie hart ich gekämpft hatte! Wie unwahrscheinlich mir dieser Moment vor 16 Stunden vorgekommen war! Vor mir tauchte das Tor auf, das auf die Tartanbahn führte. Unter dem Jubel der Streckenposten lief ich kopfschüttelnd in meine Ehrenrunde. Hier war ich, auf den letzten Schritten vor dem Abschluss des Mauerweglaufs! Als ich durch den Zielbogen lief, sah ich, dass ich sogar noch die 23:45 um 20 Sekunden unterboten hatte. Aber im Grunde war das jetzt alles egal. Eine Helferin beglückwünschte mich und ich meinte, ich wollte mich erstmal setzen. Mein Kopf sank in meine Hände und ich gab mich meinen Emotionen hin. Ein wenig später setzte sich einer meiner Mitläufer neben mich, der gerade ins Ziel gekommen war und wir unterhielten uns eine Weile. Dann verabschiedete ich mich, humpelte zur Dropbag-Station und schließlich direkt zum Shuttlebus. Alle in meiner Busgruppe waren schwer verliebt in den Fahrer, der uns schnell und freundlich zum Hotel zurückbrachte. Ich war so dankbar, endlich in der Nähe meines Bettes und einer Dusche zu sein! So fiel ich sauber und zufrieden in den üblichen, unruhigen, schmerzerfüllten und viel zu kurzen Schlaf nach einem Ultra.

Ein Hotel voller Pinguine

Leider mussten wir die Zimmer bereits um zwölf räumen und so war an nicht mehr als vier Stunden Schlaf zu denken. Nach einer kleinen Episode um einen in einem Auto eingeschlossenen Autoschlüssel verstauten wir unser Gepäck und humpelten zurück ins Restaurant des H2-Hotels. Es war noch mehr als eine Stunde Zeit. Was macht man nach einem 100-Miler, wenn man in einem Restaurant sitzt und noch Zeit hat? Richtig, eine Pizza bestellen! Das war himmlisch! Wir beglückwünschten uns zu dieser Idee, während wir uns über all die anderen Pinguine amüsierten. Wirklich jeder hier hatte sichtlich Mühe damit, zu gehen.

Pizza!

Wenig später war dann auch schon Zeit für die Siegerehrung. Rainer Eppelmann fand schöne Worte im Andenken an die Maueropfer und Marina und ich bekamen endlich unsere wohlverdienten Medaillen und Buckles – Marina war übrigens in überragenden 20:30 Stunden im Ziel und hat damit den Platz 10 der Frauen belegt! Wir plänkelten noch ein wenig herum, bis wir uns schließlich auf den Heimweg machten.

Geschafft! Buckle im Sack!

Fazit: Danke, gut

Ich hatte großes Leider erwartet und ich hatte es bekommen. Schon nach siebeneinhalb Stunden völlig erledigt, habe ich mich nur mit Willenskraft ins Ziel gebracht. Das zeigt, wie viel wir zu leisten im Stande sind, und wie wenig wir davon jeden Tag abrufen. Am Ende bleibt aber die Erkenntnis, dass es immer irgendwie weitergeht. Nicht nur auf einer Hundert-Meilen-Strecke, sondern immer im Leben. Egal wie hoffnungslos es aussehen mag, es gibt immer einen Weg. Du musst nur den nächsten Schritt machen.
Das Erreichte hat mich sehr stolz auf mich gemacht. Die Tatsache, dass ich mit sehr schlechter Vorbereitung einige Minuten schneller war, als bei der Tortour im letzten Jahr zeigt mir, dass ich auf dieser Distanz noch viel herausholen kann. Das wird unter anderem Ziel des Trainings der kommenden Monate sein.
Wirklich unter Beweis gestellt habe ich bei diesem Lauf aber zweifellos die Kraft meines Willens. Auch am tiefsten Punkt der Verzweiflung und des Schmerzes kann ich mich mobilisieren und für mein Ziel kämpfen. Ein Tiger gibt nicht auf.

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