Tief im Westen

wo die Sonne verstaubt/ist es besser, viel besser, als man glaubt! – so sang Herbert Grönemeyer 1984 erstmals und tut es bis heute. Dass wir schon seit Jahren – ja, mittlerweile seit Jahrzehnten – nur noch aus der verblassenden Erinnerung um den industriellen Charakter unserer Heimat wissen, macht uns nicht weniger stolz auf diese Vergangenheit, hat sie uns doch all die wundervollen Trassen beschert, die wir heute erlaufen oder erradeln können; die Ausblicke von den langsam zuwachsenden Halden und die Fördertürme und umstrukturierten Zechen- und Hüttengelände, die uns heute einerseits Erholung und Kultur versprechen und doch auch zugleich die tief in uns schlummernde kollektive Erinnerung an Maschinenlärm, Staub und Feuer wecken, eine Erinnerung, die nicht uns selbst entstammt und doch zu uns gehört, wie die A40 oder die Zeche Zollverein.

So sind wir also durch den noch immer anhaltenden Strukturwandel vor große Probleme gestellt und doch zugleich gesegnet durch hunderte Kilometer an Radwanderwegen, die uns wegen ihres alten Zwecks hautnah an dem industriellen Erbe vorbeiführen, das diese Region und ihre Menschen so nachhaltig geprägt hat.

Mit steigender Kilometerzahl habe ich nun in den letzten Wochen die Gelegenheit ergreifen können, mit großen Runden durch Bochum, Essen und am Rande von Gelsenkirchen entlang das Ausmaß und die verbindende Kraft dieser Vergangenheit zu erfassen. Besonders mein letzter Lauf hat mich über die für mich wohlbekannten Gefilde in Bochum hinausgeführt.

Von Witten-Heven aus startete ich gegen elf in in Richtung Westen und lief über das Nordufer des Kemnader Stausees immer am Fluss entlang durch Stiepel und nach Hattingen, wo ich an das südliche Ufer der Ruhr wechselte. Im eitlen Sonnenschein glitzernd floss der Strom dahin, wie ich – ein paar Schritte neben ihm – seinem Bett folgend und durch nichts beirrbar. In Steele wechselte ich erneut das Ufer, ließ an der “Zornigen Ameise” die Abzweigung in Richtung Baldeneysee mit einem Tortour-Sehnsuchts-Seufzen links liegen und lief mit gleichbleibender Pace die Trasse in Richtung Gruga hinauf nach Essen. Nach einigen Kilometern und einer kleinen Essenspause bog ich auf die Rüttenscheider Straße in Richtung Innenstadt ab – hier und auch bei der Durchquerung der Fußgängerzone (warum hat mir keiner gesagt, dass dieses Wochenende in Essen Ostermarkt ist?) waren meine von den Ruhrseen einschlägigen Slalom-Erfahrungen Gold wert! Im Norden der Stadt angekommen, schlug ich durch Altenessen ein paar Haken, bis ich auf einem wirklich schönen Trassenabschnitt landete, der mich bis zum Nordsternweg führte. Ich war mittlerweile ein wenig müde geworden, so dass ich mein Laufstil ziemlich schlampig wurde, was meine Schuhe nach fast 1300 Kilometern anscheinend nicht mehr kompensieren konnten, denn es stellten sich bald unangenehme Knieschmerzen ein, die mir den Blick auf die Schönheit der Umgebung verstellten. Auf der Nordsterntrasse angekommen, zwang ich mich also zu einem saubereren, schnelleren Laufstil, was die Schmerzen verschwinden ließ, aber ziemlich anstrengend war. trotz der gesteigerten Geschwindigkeit schlichen die Kilometer auf den teils schnurgeraden Trassenabschnitten nur so dahin. Immerhin aber war die Jahrhunderthalle schon ausgeschildert; die angezeigte Entfernung war jedoch nicht gerade eine Stütze für meine Motivation, denn es kam mitunter vor, dass das erste Schild 13 Kilometer Entfernung verkündete und das nächste 15-20 Minuten später ebenfalls. Ich half mir damit aus, dass ich hin und wieder das Handy zückte und mittels Track und Kartenapp meinen Fortschritt in Richtung Ziel kontrollierte. Die Antwort blieb allerdings für lange Zeit die gleiche: es ist noch weit!

Dennoch lief ich unbeirrt weiter, gönnte mir hin und wieder längere Gehpausen, ein paar Gummibärchen und eine Cola, die mir dann allerdings bei Kilometer 50 ausging. Mit klebenden Händen und auf das Isozeug zurückgeworfen, das ich mittlerweile nicht mehr sehen konnte, zwang ich  mich, einen Laufschritt vor den anderen zu tun und bemühte mich um ein ausgewogenes Tempo. Die Muskeln schmerzten, doch es lief einigermaßen, und irgendwann, nach einer gefühlten Trassen-Ewigkeit, erklomm ich den Hügel zum Westpark, schob mich höhengeängstigt mittig über die Erzbahnschwinge und ein paar hundert Schritte brachten mich an das Zwischenziel der trassengetrübten Träume der letzten Stunden: die Aral-Tankstelle direkt gegenüber dem Jahrhunderthaus. Die Bessemerstraße nutzte ich, um eine Gehpause einzulegen und eben die erworbene kalte Cola hinunterzustürzen. Ich querte den Romanusplatz und gelangte auf die Königsallee, wo ich bald eine ganze Weile ins Gehen zurückfallen musste, weil die Übelkeit, die der Cola folgte, mich eine ganze Weile quälte. In mir warf sich ein kleiner Teil von mir auf den Boden und begann, rumzuheulen, mit Armen und Beinen auf den Boden zu trommeln und ein Ende dieser Quälerei zu fordern. Es wäre ganz leicht sich jetzt aufsammeln zu lassen. Warum aber, fragte ich zurück, sollte ich das, nur sechseinhalb Kilometer vor dem Ziel, bitteschön tun? Bin ich doof? – Nun, ehrlich gesagt kann man diese Frage angesichts der Aktivität, der ich nun schon seit sieben Stunden nachging, durchaus auch mit Ja beantworten, aber wer will schon den ersten Stein werfen?

So bog ich also links in die Markstraße ab, querte bald die ruhige Wohngegend dahinter und lief – nun wieder stärker werdend – hinab ins Lottental. Die Sonne war mittlerweile hinter dem Horizont verschwunden. Ich sog den vertrauten Geruch des Waldes ein und lief im letzten Abendlicht am “See Nami” vorbei. Nun waren es nur noch anderthalb Kilometer, die ich auch noch irgendwie hinter mich brachte. Was ein Lauf! Was ein Sieg der reinen Willenskraft über alle Schmerzen, Erschöpfung und Zweifel! Und wie herzlich willkommen ist diese Regenerationswoche!

Glück auf!

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