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Baldeneysee, Südufer. Kurz hinter dem Haus Scheppen bleibe ich kurz stehen. Der Blick über die Schulter ist einfach zu schön, um ihn unfotografiert zu lassen. Ich halte an, pausiere meine Uhr und schieße ein schönes Bild in Richtung Villa Hügel, die dort auf ihrer Anhöhe vor diesem strahlend blauen Himmel thront. Ich mag es, diese Momente nach dem Lauf noch einmal anhand der Fotos Revue passieren zu lassen. Um die LKW, die hier überall herumstehen und dem Team zugehören, dass den am nächsten Tag stattfindenden Baldeneysee-Marathon vorbereitet, läuft gerade eine Laufgruppe von etwa 15 Personen. Sie sind mir auf den Versen, denke ich.
Ohnehin werden sie mich überholen, wenn ich meine Langstrecken-Pace beibehalte, und das sollte ich tunlichst, denn von hier bis zum Ziel in Wetter ist es noch ein langer Weg! Bereits die Läufer, die kurz zuvor von der Staumauer direkt vor meine Nase gesprungen und mir dann in lockerem Tempo weggelaufen sind, mich dann mit einer kurzen Dehnpause bis auf wenige Meter wieder an sich herangelassen haben, nur um mir dann wieder davonzulaufen, haben meine Disziplin auf eine Probe gestellt. Nicht allerdings, ohne mich für einen halben Kilometer mehr als eine halbe Minute zu schnell laufen zu lassen, bis ich mich habe zur Ordnung rufen können. Ich spüre also förmlich diese Läufergruppe im Nacken, während ich mich auf meinen Trott konzentriere, die Musik und die Aussicht genieße. Und doch wundere ich mich, wie lange es dauert, bis die Gruppe mich dann schließlich eingeholt hat. Der Führungsläufer spricht mich schließlich freundlich an und fragt, was denn nun immer in diesen Laufrucksäcken sei. Meistens Getränke, antworte ich, Essen aber auch und in meinem Fall auch etwas Wechselkleidung, man weiß ja nie auf diesen langen Läufen. Wie lange ich denn laufen würde, fragt er zurück, und als ich antworte, dass es etwa 57 Kilometer und vermutlich etwas mehr als sechs Stunden würden, geht ein anerkennendes Raunen durch die Gruppe. Nach ein paar netten Wünschen in beide Richtungen nimmt die Gruppe schließlich wieder ihre Reisegeschwindigkeit auf und mir werden von den Vorbeiziehenden anerkennende Blicke zugeworfen. Lächelnd setze ich meinen Weg fort.
Bereits sechs Kilometer habe ich hinter mich gebracht, seit der Zug mich bei schönstem Wetter in Essen-Werden ausgespuckt hat. Wieder ein paar Kilometer mehr auf der Spur der Tortour, mit Erinnerungen von Pfingsten und Hoffnungen für 2018. Ich hatte mich für eine kleine Abweichung entschieden, nicht den Weg durch den Ort gewählt, sondern hatte mich nach der Ruhrüberquerung rechts gehalten und den Weg am Fluss entlang eingeschlagen. Einige Samstagsspaziergänger überholend, nähere ich mich jetzt der Staumauer am Ende des Baldeneysees und durchlaufe das Licht- und Schattenmosaik am Hardenbergufer.
Langsam kommt die Ruhrbrücke in Sicht, die den Radweg auf das Nordufer überführt. Hier, bei meinem heutigen Kilometer 8,3, ist dieser berühmte VP “nur noch Marathon” also bin ich jetzt 42 Kilometer weit weg von dem berühmten Rheinorange, an dessen Standpunkt die Ruhr in diesen anderen, völlig unbedeutenden Fluss mündet (dessen einzige Attraktion hierzulande zu sein scheint, dass er zwei tödlich verfeindete Städte miteinander verbindet). Als ich die Brücke unterquere, um die Rampe hinauf zu nehmen, kommt es mir fast so vor, als sähe ich Frank und mich dort auf einer Biergartengarnitur sitzen, überlegend, was wir als erstes essen sollen.
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Ab der Kampmannbrücke an Kilometer 9,5 und der A44 bei Kilometer elf entfernt sich die Strecke eine Weile vom Fluss und führt an der Straße entlang. Danach folgt eines der schöneren, aber auch etwas eintönigen Stücke durch die Heisinger Ruhrauen. Nach der Querung der Konrad-Adenauer-Brücke geht es entlang der berühmten “Zornigen Ameise”, einem Restaurant, das “Draco” heißt und einen Stierkopf auf seiner Tür trägt. Ein seltsamer Zoo ist das, denke ich, bestimmt nicht leicht zu füttern, und laufe auf den Trassenausläufer des Radwegs Annental, der aus der Essener Innenstadt in den Ruhrtalradweg mündet. Jetzt heißt es – nach 15 Kilometern – auch für mich “nur noch Marathon” und ist es nicht mehr weit bis zur nächsten Ruhrbrücke in Essen Steele-Ost. Entlang der wohlbekannten Ruhrschleifen, an der Horster Mühle vorbei und schließlich mit Dahlhausen in Sichtweite fällt die Halbmarathon-Distanz. Das ist schon beachtlich, aber noch eine ganz kleine Weile zu laufen. So vier Stunden etwa. Kleinigkeit.
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In Dahlhausen hat das THW wegen einer Übung den Weg hinter der Schwimmbrücke gesperrt. Aber das THW wäre nicht das THW, wenn nicht eine Umleitung über einen Feldweg ausgeschildert worden wäre (eigentlich verwundert es mich, dass die Jungs den nicht noch schnell asphaltiert haben, das können die durchaus!). Also kein Problem. Ich laufe weiter mit noch leicht zu schneller Pace von 5:50 (zu schnell!) bis 5:59 (besser!) und fühle mich gut, während ich die 25-Kilometer-Marke hinter mir lasse, 26, 27, 28, und fühle mich gut. Naja, sagt eine leise Stimme, so langsam wird es ein wenig zäh. Aber ich laufe noch immer gut, erreiche bei Kilometer 30 die Hattinger Ruhrbrücke, überquere den Fluss und laufe weiter in Richtung Rauhendahlstraße, diesen schon so oft gelaufenen Abschnitt, der mich schließlich kurze, aber durchaus anstrengende und jetzt auch schmerzhafte Steigung auf den Straßenabschnitt in Richtung Koster Brücke führt. Jetzt reißt es in der Wade bei jedem Schritt. Nach ein paar hundert Metern muss ich stehen bleiben und den angegriffenen Muskel massieren. Muss das denn jetzt sein? Ich laufe wieder an, anfangs unter Schmerzen. Ob ich vorzeitig in Heven abbrechen muss? Ich gebe mir noch bis zur Kemnade Zeit, das zu entscheiden. Doch der Schmerz bleibt im Hintergrund und ich finde eine etwas diszipliniertere Gangart, die gut funktioniert. An der Kemnade bricht die Pace ein wenig ein. Jetzt beginnt also wieder dieses Leiden und der Durst auf Cola. Ich vertröste mich noch für etwa zehn Kilometer und verspreche mir, an der Tankstelle Halt zu machen. Ein Umweg, der schmerzt, aber einer der sich lohnt. Kalt, Zucker, Koffein.
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Die Nachmittagsspaziergänger sehen einen leidenden, slazverkrusteten Läufer, der die Zähne zusammenbeißt und hin und wieder schmerzerfüllt das Gesicht verzieht. Die Muskeln wehren sich. Kurz vor der Schleuse mache ich eine Gehpause, die ich mit ein paar Sekunden in der Duchschnittspace bezahle. Ich esse, trinke ordentlich und schicke mich mit einem imaginären Klaps auf den Hintern wieder los. Fies ist, dass der Wadenschmerz mit Macht zurückkommt, wenn ich langsam anlaufe. Andererseits sorgt er dafür, dass die Gehpausen auf ein Minimum reduziert werden. Ich will auch meine Pace nicht unnötig schmälern. Und auch mal irgendwann ankommen. Ankommen, das kommt mir nach wie vor wie ein weit entfernter Traum vor. Aber er wird bald in Erfüllung gehen, nur noch ein bisschen Laufen.
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Schließlich ist da plötzlich die Tannkstelle vor mir, jene Oase, in der Schokolade und Cola sprudeln. Ich kaufe zwei Liter Cola, die ich in meine Flaschen fülle und in meinem Rucksack verstaue. Die zweite Flasche drückt auf meinen Rücken, aber ich habe keine Lust, den Rucksack wieder abzunehmen, und so beschere ich mir eine fiese Druckstelle, die noch am Sonntag wehtun wird. Ich zwinge mich, schnell wieder weiterzulaufen und überquere die Schmerzschwelle in der Wade sowie die Nachtigallbrücke. Nach ein paar Minuten erreiche ich den öden Trassenabschnitt zwischen Bommern und Wengern. Ewiglange Kurven, eine ewiglange Gerade. So etwas scheint nie vorbeizugehen. Alle paar hundert Meter belohne ich mich mit einem großen Schluck Cola. Hin und wieder stöhnend werfe ich mir innerlich Mantras an den Kopf, dass ich jetzt da bin, wo ich hinwill (hä? Ich will doch nur nach Hause!), dass ich das Leiden akzeptieren und überwinden muss. Ich kraxle den achtzehnprozentigen Anstieg am Ende der Trasse hinauf und zwinge mich, oben angekommen, nach einem großen Schluck Cola zum Laufen. Das abschüssige Stück, das nun folgt und auf den letzten Abschnitt durch die Ruhrauen bis zur neuen Ruhrbrücke führt, gibt mir ein wenig Schwung mit. In den Auen wird mir langsam wieder wohler, wohl aufgrund der Nähe zum Ziel und der eintretenden Wirkung der Cola. Ich nehme wieder etwas mehr an Fahrt auf. Die Uhr sagt, dass meine Durchschnittspace bei 6:17 liegt. Das ist gut und ich tue alles, um diesen Wert zu halten.
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Und da ist dann auch schon die Rampe auf die neue Ruhrbrücke. Nur noch über den Fluss und die paar hundert Meter bis zum Parkhaus am Bahnhof. Unter der Brücke steht ein Spaziergänger auf dem Radweg und schaut mir mitleidig nach. Ich stöhne an der Tankstelle vorbei, lasse ächzend verwunderte Lidl-Kunden hinter mir und laufe bis zum Einfahrtstor des Parkhauses. Ein Teil von mir feiert bereits eine Party, der Rest lässt sich gerade noch an einem Whiteboard mit Hilfe von Schaubildern und sehr langsam erklären, dass es geschafft ist. Warum habe ich noch gleich im ersten Stock geparkt? Ich nehme den Aufzug.
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Während ich trinkend auf meiner Kofferraumkante sitze, wechseln sich Schmerzen, die Euphorie meiner Beine darüber, dass der Typ sie jetzt endlich in Ruhe lässt und die Sehnsucht nach der Dusche ab, während ein noch zukunftsorientierterer Teil von mir bereits eine engere Auswahl an Pizzen in Erwägung zieht (es war am Ende die große “Henry Milan” mit Schinken, die mich extrem satt und zufrieden gemacht hat).
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Nicht ganz 60 Kilometer (die Uhr behauptet, es waren 58,7) zu laufen, sechs Stunden und acht Minuten lang, ist eine Leistung (das entspricht ja immerhin der Strecke von Essen-Werden nach Wetter habe ich gehört). Keine kleine überdies. Das hat mir durchaus weiteres Selbstvertrauen, aber auch Respekt vor der angestrebten 100-Kilometer-Distanz eingeflößt. Es bleibt mir allerdings noch eine Menge Zeit, mich weiterzuentwickeln – insgesamt ist mein bisheriger Weg schon ziemlich ermutigend, wie ich finde. Weiter in das Leid einzutauchen, das einen auf einer Ultratrecke erwartet, ist sicher eine wichtige Erfahrung. Ich erwarte mir da vom kommenden Samstag stattfindenen Hermann-Nightrun noch einiges an Potential in dieser Hinsicht. Das wird bannig kalt! So schlimm jedoch eine Langdistanz zwischenzeitlich werden kann, mag ich es dennoch, mich derartig herauszufordern und derart ang und weit zu laufen. Hier gilt umso mehr das alte Sprichwort: der Weg ist das Ziel!