Im Kreis durch die Ödnis – Vivawest-Marathon 2016

Ich quäle mich die Anhöhe auf den Nordsternplatz hinauf. Durch meine eigene Musik hindurch wummert der Bass der Band, die auf der Bühne spielt. Ich biege um die Ecke und sehe die lange Gerade, die in den Park führt. Die Beine schmerzen. Die jubelnde Menschenmenge, der Lärm der Musik, die Durchsagen die von einer Gallerie über dem 36km-Punkt gemacht werden, um die Läufer zu pushen, all das scheint von weit weg auf mich einzudringen.  Ich laufe nur noch auf den nächsten Versorgungspunkt zu, den ich durch den 36-km-Bogen bereits ein Stück weiter hinten sehen kann.

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Die Vorbedingungen waren an sich nicht gerade ideal für einen Marathon mit hoher Intensität, denn die Vier Wochen Trainingszeit, die mir blieben, zielten auf die Tortour ab und waren auf reine Streckenbelastung ausgelegt. Zwar hatte ich mit einem Dreißiger zu Beginn, mehreren HM unter hoher Intensität und einem weiteren 30 zu Ende der Vorbereitungszeit durchaus etwas “Tempohärte” aufbauen können, doch fehlte mir der klassische 36er Lauf mit Endbeschleunigung und überhaupt jedwede Ausrichtung auf Langstreckentempo. Einzig die Tatsache, dass ich vor Monaten bereits zwei 40er mit etwa 6:00 Durchschnittspace gelaufen war, kann sicherlich angerechnet werden. Allerdings lag dazwischen einige Zeit an Krankheits- und Verletzungspausen.

So ließ ich mir bis vier Tage vor dem Lauf Zeit, um zu entscheiden, ob ich die volle Distanz, den halben, oder nur eine Trainingsrunde auf der Hausstrecke laufen würde. Die Regeneration lief allerdings so gut, dass ich mich tatsächlich am Freitag in Gelsenkirchen wiederfand, wo ich die Startunterlagen abholte. 53€ Startgebühren etc. verfallen zu lassen, war mir dann doch zu viel. Zudem hatte ich so viel auf Straße trainiert, dass ich das Ding jetzt auch noch mitnehmen konnte. Auch, wenn ich bei der Tortour bereits nahezu das doppelte gelaufen war, ist die Belastung bei einer Durchschnittspace von 10:30 (inkl. Pausen) doch ganz anders, als bei einem Marathon im Wettkampftempo. Dementsprechend hatte ich schon einigen Respekt vor dem Lauf.

Am Sonntag kam ich schließlich gut ausgeschlafen in Gelsenkirchen an, gab meinen Beutel an der entsprechenden Stelle ab (vielleicht waren die Wege ein bisschen lang, aber die Organisation fand ich insgesamt gut) und reihte mich in meiner Startbox in das Feld der Wartenden ein. Ich startete recht weit hinten mit der zweiten Welle, was ich zunächst nicht gut fand; am Ende hat es sich aber durchaus als mentaler Vorteil herausgestellt. Nachdem der Pulk sich leicht aufgelockert hatte, lief es ziemlich gut. Die Uhr schwankte zwischen 5:10 und 5:25, weswegen ich mich ein wenig zur Ruhe anhalten und das Tempo leicht drosseln musste. Dennoch lief ich etwa auf dem 30er-Tempo von 5:30-45, was ich nach wie vor für zu schnell hielt. Bei den ersten Versorgungspunkten griff ich zum Wasser, was mich regelmäßg dem Erstickungstod nahebrachte: die Becher waren zu steif und zu groß, so dass man den Rand nicht zu einer Schnabeltasse biegen und vernünftig während des Laufens daraus trinken konnte. Ab dem dritten VP versuchte ich dann den angebotenen Energydrink, der in kleineren Pappbechern gereicht wurde, was deutlich besser funktionierte.

So ging es durch die klassischen Ruhrgebietslandschaften: ein wenig Natur, Industriegebiete, große Verkehrsachsen mit Tankstellen und Fahrzeugteile-Händlern, über Firmengelände, zu Radwegen ausgebaute Erz- und Kohlebahntrassen, durch eine Einkaufsgallerie und durch Innenstädte, und, überraschenderweise, auch über einige kurze, aber knackige Steigungen. Ich muss sagen, dass einige Abschnitte – besonders die Trassen und die Bundesstraßen – wirklich öde waren. Zum Glück lagen die zumeist noch in der ersten Hälfte.

Nach der Halbmarathon-Marke hatte sich das Feld deutlich auseinandergezogen und ich lief größtenteils allein, nur noch überholt von Läufern der Schülerstaffel. Langsam mehrten sich die Läufer, die Gehpausen einlegten; bis zur 30-km-Marke wuchsen sie auf etwa die Hälfte der vor mir auftauchenden Läufer an. Und: es gab tatsächlich weitere Läufer, die noch mehr zu kämpfen hatten, als ich, denn obwohl ich gegen eine langsam, aber sicher lauter werdende innere Stimme anlaufen musste, die mich zu Gehpausen aufforderte, überholte ich mehr Leute, als ich gedacht hätte. Kurz vor der 30 ging es wieder durch Wohngebiete, und der ersehnte VP kam in Sicht. Er wurde meist angekündigt durch die Menge der wartenden Schüler-Staffelteilnehmer, die mich schließlich frisch und in forschem Tempo überholten, während ich eine kurze Gehpause einlegte, um meine Cola zu trinken. Da bereits das schon nicht gut für die Laune war, war ich wirklich froh, hinten aus der zweiten Welle gestartet zu sein.

Von nun an war es ein ständiges Hangeln von VP zu VP. Die Uhr zeigte mittlerweile eine Abweichung von etwa 500 Metern an, was mir mental zunehmend zusetzte und jede ersehnte Kilometermarke zusätzlich weiter weg erscheinen ließ. Aber komm, nur noch drei Kilometer bis zum nächsten VP. Und noch vier mal drei bis zum Ziel. Lauf das durch, vielleicht bei 38 mal ein paar Minuten Gehen.

Schließlich der Nordsternpark. Am VP mache ich wieder meine Gehpause, die etwas länger geworden ist, weil ich mittlerweile immer gleich zwei Becher Cola nehme. Ich verschnaufe noch kurz, und fluche dem an mir vorbeispurtenden Staffelteilnehmer innerlich hinterher. Die Schmerzen beim Anlaufen sind deutlich größer, als die, die sich danach einstellen, doch ich bin ziemlich fertig. Nur noch sechs Kilometer – oder zwei mal Cola, wie ich innerlich zu rechnen begonnen habe. Auf der langen Geraden nehme ich sogar wieder gutes Tempo auf. Ich komme sogar wieder auf unter sechs Minuten. Doch ich rufe mich zur Ordnung. Es ist noch weit und jede Unebenheit schmerzt. Umso schlimmer ist der Weg aus dem Park auf die Straße, der abschüssig und kopfsteingepflastert ist.

Die Kilometerschilder kriechen an mir vorbei. Ich schlage bei jedem Schild mit der Hand an, was mir ein wenig Auftrieb gibt. Wieder einen vernichtet! Auf der Hans-Böckler-Allee komme ich an einer großen Party vorbei, deren Teilnehmer durch vier Stunden Feiern teilweise ähnlich angeschlagen wirken, wie die Läufer. Großer Jubel und aufmunternde Rufe kommen aus der Menge und sorgen für zusätzlichen Anschub – zudem ist die Straße jetzt leicht abschüssig. Als ich um die Ecke in die Feldmarkstraße einbiege, weiß ich zum ersten Mal, wo ich bin. Es ist wirklich nicht mehr weit! Die Leute an der Ecke jubeln mir zu, mein Name wird über Lautsprecher gerufen und kurz hinter der Kurve ist bereits das Schild mit der magischen “41” in Sicht. Also los. Ich schalte in einen schnelleren Gang. Was an Körnern jetzt noch da ist, gehört auf die Straße. Wenig später kommt die Mulde in Sicht, die die Straße unter den Bahngleisen hindurchführt. Ich zögere kurz und beschleunige im Gefälle. Laut stöhnend laufe ich mit allem, was da ist. Nur noch um die Ecke, dann ist bereits das Ziel in Sicht! Leute rufen meinen Namen, ich stöhne, aber ein Teil von mir staunt schon ungläubig, dass ich es tatsächlich geschafft habe. Die Leute jubeln und schließlich erklingt das Piepen der Zeitnahme-Matte. Schwer atmend gehe ich weiter in Richtung Verpflegungsmeile, bekomme eine Medaille in die Hand gedrückt und brauche noch einige Minuten, bis ich wieder bei Atem bin. Ich trinke gleich zwei Becher Cola und nehme zwei weitere mit in Richtung Sanitätsbereich, wo ich meine Leute besuche. Viele erkennen mich erst gar nicht und schauen ein wenig mitleidig, aber auch anerkennend.

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Nach ein paar Minuten gehe ich dann den leicht gequälten Schritt des Marathonies zur Gepäckaufbewahrung. Ein weiter, weiter Weg. Für die Strecke von der Turnhalle bis zur Straßenbahn brauche ich, obwohl ich so schnell gehe, wie ich kann, etwa 18 Minuten. Als ich an die Unterführung an der Florastraße komme, bin ich dem Mann, der die Rolltreppe erfunden hat, unendlich dankbar! An der Haltestelle steht bereits eine der Sonderbahnen, die nach einigen Minuten losfährt. Der Fahrer sagt kurz die angefahrenen Haltestellen durch und sorgt für gute Stimmung: “Sagen sie, ich habe gehört, man kriegt Freibier, wenn man durchs Ziel läuft, ist das richtig? Weil, dann würde ich mir das auch mal überlegen. Nüchtern hält man das ja nicht aus! – Ach, alkoholfreies Bier? Wer macht denn sowas? Ein bisschen verrückt sind Sie ja schon alle, oder?”

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Ich kann meine Teilnahme am Vivawest-Marathon wohl als großen Erfolg werten. Trotz denkbar schlechter Vorbereitung und trotz einer eine Woche zuvor gelaufenen Ultra-Distanz habe ich mich den Umständen entsprechend sehr gut geschlagen. Der Lauf hat, trotz öder Abschnitte und der Schmerzen am Ende, wirklich Spaß gemacht, die erreichte Zeit hat meine Erwartungen übertroffen. Ich bin wieder dem Leiden auf einem langen Lauf begegnet und habe wertvolle Erfahrungen sammeln können, die mich sicherlich weiterbringen werden. Zudem habe ich sowohl Respekt, als auch ein gewachsenes Selbstbewusstsein gewonnen, was meine Leistungs- und Regenerationsfähigkeit angeht. Dafür spricht auch, dass ich – abgesehen von leichten Muskelschmerzen – am nächsten Tag keine größeren Probleme hatte. Die klassischen Probleme beim Treppensteigen etc. haben sich nicht eingestellt. Ein erster, langsamer Regenerationslauf war auch sehr angenehm, und ab der nächsten Woche werde ich nochmal ein wenig knüppeln, bevor ich mit meinem Korsikaurlaub zwei Wochen Auszeit einlege. Das wird meinem Körper sicher mal gut tun!

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